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172 - Der Sturm

172 - Der Sturm

Titel: 172 - Der Sturm
Autoren: Stephanie Seidel
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nach dem anderen, in endloser Folge. Traf er aufs Wasser, sog er riesige Mengen davon hoch – so schnell, dass man für einen Moment das Flussbett sehen konnte.
    Überall im Wald fielen seine Opfer wieder herunter: hier ein mächtiger Baumstamm, dort eine zerplatzende Flut. Es regnete zappelnde Fische. Kein Ort war sicher, keine Stelle blieb verschont. Was der Tornadorüssel verfehlte, das holten sich seine Begleiter, die tobenden Orkanböen. Der Fluss sah aus, als wollte er vor seinem Angreifer fliehen. Riesige Wellen türmten sich auf, schäumten umeinander und rauschten plötzlich wie weggespült fort.
    Aruula und Yngve rannten durch den Mangrovenwald; von heran schießendem Gehölz und von fallenden Bäumen bedroht. Sie waren überzeugt, dass Leviathan sie verfolgte. Sie hielten ihn für ein lebendes Wesen, und das nicht ohne Grund: Das gigantische schwarze Gebilde quiekte wie riesige Piigs; es stöhnte und knurrte aus tiefer Kehle, und da waren manchmal Laute, die nach Worten klangen.
    »Er wird uns töten!«, schrie Aruula gegen den Sturm an.
    »Vielleicht.« Yngve packte sie und warf sich mit ihr zu Boden. Eine halbe Frau wirbelte über sie hinweg. Es krachte hohl, als der Körper aus Plastiflex irgendwo anstieß. »Aber vielleicht auch nicht!«
    Der blonde Krieger zog Aruula hoch und brüllte: »Sieh dir den Dämon an! Er reißt die Bäume aus, aber das Gras lässt er stehen!« Yngve war kaum zu verstehen im Tosen und Heulen ringsum. Er zeigte energisch nach unten.
    »Wir brauchen ein Versteck nahe am Boden!«
    Aruula blickte gehetzt über die Schulter. Ihre Augen wurden groß.
    Das schwarze Monster war auf ihren Kurs eingeschwenkt. Leviathan pflügte eine Schneise durch den Wald, mit senkrecht hochschießenden Bäumen und Sträuchern, als wollte er sich freie Sicht verschaffen für den Angriff auf die beiden Menschen.
    Sie rannten weiter, suchten verzweifelt nach einem Unterschlupf, nach einer Höhle vielleicht. Doch die gab es hier nicht. Dafür gab es reichlich Wasser, und Mangroven. Es waren immergrüne, baumartige Salzpflanzen, deren Atemwurzeln das Überleben bei Hochwasser sicherten. Ihre Stämme wurden zusätzlich von Stelzwurzeln gestützt.
    Yngve entdeckte eine dieser Pflanzen. Herumfliegende Bäume hatten die Krone getroffen und sich im zerschmetterten Geäst verfangen. Sie lehnten schräg am Stamm.
    »Dort hin!« Der blonde Barbar zerrte Aruula mit sich zu der Mangrove. Das Wurzelwerk war alt und verschlungen wie ein Käfig. Die Gefährten zwängten sich hinein. Es war ihnen egal, dass holzige Knospen ihre Haut zerschrammten, dass der Hohlraum eine Handbreit unter Wasser stand und gerade mal ausreichte, um verkrümmt darin zu sitzen. Hauptsache, irgendetwas befand sich zwischen ihnen und dem Sturm.
    Im nächsten Moment schlug er zu. Das Heulen und Quieken wurde ohrenbetäubend.
    Windgeschwindigkeiten von über zweihundert Stundenkilometern brausten durch den Mangrovenwald.
    Der schwarze Rüssel kam direkt auf Aruula und Yngve zu. Die beiden klammerten sich aneinander, schrien vor Entsetzen. Einer der angelehnten Bäume löste sich, schoss davon. Der zweite folgte ihm, dann der Letzte, dann die Krone. Schon zerrte Leviathan an den Stelzwurzeln – mit solcher Macht, dass sie Zentimeter für Zentimeter aus dem Boden ruckten.
    Er hat uns entdeckt!, dachte Aruula panisch. Er gräbt uns aus!
    Vor ihrem Gesicht knallte ein Frauenkopf ans Holz, mit blinden Augen und Plastiklächeln. Er verharrte eine Sekunde, dann stob er weg. Aruula hörte ihre eigenen Schreie nicht im Wüten des Sturms. Und plötzlich wurde es still.
    Der übermächtige, rasende Wind verstummte wie abgeschaltet; was eben noch durch die Luft gewirbelt war, fiel zu Boden. Aruulas Herz hämmerte gegen die Rippen. Sie lockerte ihren schmerzhaft verkrampften Griff und blickte fragend auf Yngve. Was war geschehen?
    Um die beiden herum, in mehr als hundert Metern Entfernung, rotierte eine schwarze Wand. Enorme Mengen Trümmer flogen mit ihr – der halbe Mangrovenwald, wie es schien. Doch das eben noch alles umfassende Tosen und Brüllen war gedämpft, als käme es durch eine dicke Eisschicht.
    Aruula sah nach oben und erstarrte vor Staunen.
    Das Auge des Zyklons formte einen Tunnel durch Finsternis und Verderben. Hinauf ins Licht, an die Pforte zur Ewigkeit. So schien es der Barbarin, und entsprechend ehrfürchtig wurde ihr zumute. Es war, als hätten die Götter den Himmel geöffnet. Aber zu welchem Zweck? Wollten sie Aruula retten oder
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