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172 - Der Sturm

172 - Der Sturm

Titel: 172 - Der Sturm
Autoren: Stephanie Seidel
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Zweige. Allem Anschein nach hatte sie die ganze Zeit in der Nähe ihres Kindes ausgeharrt, trotz des Unwetters, trotz der Gefahren. Auch jetzt blickte sie es unentwegt und voller Sorge an. Zärtliche Laute wehten heran. Rulfan hatte das Gefühl, dass die Äffin ihrem Kleinen Mut zusprach, und sein Zorn verrauchte.
    Wie komme ich aus der Sache raus?, fragte er sich.
    Es war eine schwierige Situation. Rulfan konnte das Baby nicht einfach freilassen und seiner Wege ziehen, weil er nicht wusste, wie die Äffin reagieren würde.
    Diese wiederum konnte ihn nicht angreifen, ohne ihr Junges in Gefahr zu bringen.
    Rulfan hoffte, dass Chira still an seiner Seite blieb. Sie gehorchte oft erst nach energischer Aufforderung.
    Das Baby auf seinem Arm streckte die Hände nach seiner Mutter aus, und man konnte sehen, wie die Waldfrau immer aufgeregter wurde. Sie schaukelte von einem Bein aufs andere, legte sich die Hand auf den Kopf und gab dunkle, kehlige Laute von sich. Das Junge antwortete ihr, und den Albino beschlich die unbehagliche Vorstellung, die beiden würden über ihn sprechen.
    Unmöglich! Es sind doch nur Tiere! Oder doch mehr als das? Einen Versuch war es wert.
    Vorsichtig ging Rulfan in die Hocke und legte seine Waffe auf den Boden. Dann richtete er sich auf, trat einen Schritt zurück, wartete ab. Die Behaarte verfolgte seine Bewegungen misstrauisch. Er nahm das Junge in beide Arme und hielt es ihr entgegen.
    Da legte sie die Stachelfrucht hin und trat zurück – genau wie Rulfan. Sie zeigt das Verhalten eines Menschen, der zum Waffenstillstand und zu Verhandlungen bereit ist! Ist es möglich, dass ein Tier so denken kann?
    Der Augenblick war günstig, die Lage entspannt.
    Rulfan wollte nicht darauf warten, dass womöglich der Clan der Waldmenschen auftauchte und die Situation zum Kippen brachte. Er ging auf die Knie, setzte das Jungtier ab und ließ es los.
    Hatte er das Muttertier richtig eingeschätzt? Oder würde es angreifen? Atemlos verfolgte er, wie das Weibchen dem Jungen entgegenlief. Sie hob es schwungvoll auf ihren Rücken, sah Rulfan durchdringend an – und wandte sich um…
    ***
    Geschafft! Es war so angenehm, durch die offene Weite von Bono zu wandern, frische Meeresluft zu atmen und die bedrückende Atmosphäre der letzten beiden Tage hinter sich zu lassen. Um die Telepathen, die zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen waren, würde er trauern, sobald er zur Ruhe gekommen war – in der Siedlung dort hinten, ein paar Meilen weiter südlich! Möglicherweise war das die Hafenstadt, von der Käpt'n Ajib erzählt hatte! Jenseits der Dächer schwankte etwas, das wie Mastspitzen aussah. Rulfan nickte entschlossen. Mit etwas Glück konnte er dieses Land vielleicht schon morgen verlassen!
    Chira trabte neben ihm her, still und so eng, als würde sie von einer unsichtbaren Leine gehalten. Rulfan fand es verwunderlich; er hatte erwartet, dass die junge Lupa nach dem eingeschränkten Auslauf der letzten Tage jetzt einmal richtig durchstarten würde. Aber vielleicht war sie einfach müde. So wie er.
    Der Regen hatte nachgelassen, und zwischen den dichten Wolken lugte gelegentlich ein Stück Himmel durch. Westwind wehte heran; lebhaft, jedoch nicht stürmisch. Am Horizont hing ein schwarzes Wolkenband, das sich zu verkleinern schien. Alles in allem war das Wetter also nicht schlecht, und man konnte darauf hoffen, dass sich die aufgebrachte Natur schon bald unter der heißen Augustsonne entspannen würde.
    Nur das Meer verhielt sich merkwürdig.
    Rulfan wanderte daran entlang, in gut zweihundert Metern Abstand von der Brandung. Anfangs hatte sie wild geschäumt, war den Strand hoch gelaufen und hatte ein paar der Felsformationen umspült, die hier überall aufragten. Inzwischen kamen nur noch kleine Wellen ans Ufer, viel zu schmächtig für ein richtiges Meer. Rulfan hätte sich nichts dabei gedacht – er hätte es wahrscheinlich nicht einmal bemerkt –, wenn Chira nicht so ungewohnt anhänglich gewesen wäre. Irgendetwas stimmte nicht, das konnte er spüren. Aber was?
    Plötzlich zog sich das Meer zurück. Rulfan blinzelte ungläubig. Träume ich? Er blieb stehen und sah erneut hin. Das Wasser verschwand! Wo eben noch Wellen gerauscht hatten, glänzte nasser Strand. Fische zappelten im Schlick. Irgendwo in der Ferne war Donner zu hören.
    »Was bedeu-« Rulfan brach ab. Er hatte zu Chira hinab geblickt und sie nicht gefunden. Die Lupa rannte davon.
    Landeinwärts.
    »Chira!«, brüllte er hinter ihr her,
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