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120, rue de la Gare

120, rue de la Gare

Titel: 120, rue de la Gare
Autoren: Léo Malet
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gesteckt, ohne an das Loch zu denken, und ist zur Sperre gegangen. Dort sucht er sie, findet sie nicht und glaubt, er habe sie verloren. Kein Wunder bei seiner Nervosität! Er geht wieder zum Schalter und kauft sich eine zweite Karte, die er erst in die Tasche steckt, nachdem sie an der Sperre entwertet wurde. Die Karte rutscht ebenfalls durch das Loch und gesellt sich zu ihrer Doppelgängerin. Das ist die einzige Erklärung... Es sei denn, Sie vermuten, daß er von jemandem begleitet und von diesem Jemand abgeknallt wurde.“
    „Unwahrscheinlich. Wenn Bob soviel Angst hatte, wie Sie sagen, wär er nicht zusammen mit der Ursache dieser Angst abgehaun. Vor allem hätte er seine freundliche Naivität nicht so weit getrieben, seinem Mörder die Zugfahrt zu bezahlen. Sie haben die Karte doch sicher auf Fingerabdrücke untersucht?“
    „Ja. Es waren nur die von Colomer drauf.“
    „Und? Haben alle diese Tatsachen Sie weitergebracht?“
    „Man darf nichts außer acht lassen“, belehrte mich der Kommissar.
    „Meine Worte! Um dieses ausgezeichnete Prinzip auch weiterhin zu verfolgen, würden Sie mir einen Blick auf die Papiere gestatten, die Colomer bei sich hatte? Ich kannte ihn besser als Sie und...“
    möglicherweise könnte Ihnen irgend etwas einen Hinweis liefern, was für uns ohne jede Bedeutung ist?“
    „Ganz genau.“
    Kommissar Bernier nahm den Telefonhörer ab und gab eine kurze Anweisung durch. Dann fragte er mich plötzlich:
    „Welchen Eindruck hat Ihr Mitarbeiter während der kurzen Begegnung auf Sie gemacht?“
    „Er wirkte nicht unbedingt kopflos... aber wenn ich’s mir jetzt überlege... Er sah etwas merkwürdig aus. Ja, so als hätte er Angst gehabt, so als wär er erleichtert gewesen, mich zu sehen...“
    „Was hat er zu Ihnen gesagt?“
    „Daß er sich freue, mich zu sehen. Mehr nicht. Aber Sie haben recht, Kommissar. Vielleicht freute er sich nicht nur, weil ich aus dem Lager heimgekehrt war...“
    Es wurde an die Tür geklopft. Ein Beamter brachte den Tascheninhalt meines Ex-Agenten. Ich sah eilig die Papiere durch: Ausweis, Visitenkarte, Lebensmittelkarten und andere Zettel ohne Bedeutung. Nirgendwo der geringste Hinweis auf die Rue de la Gare. Ich sah mir die beiden Fahrkarten an. Eine war entwertet, wie der Kommissar gesagt hatte. Auch einige Interzonenkarten waren bei Bob gefunden worden, alle von seinen Eltern. Sie hatten ihren Pariser Vorort nicht verlassen und beklagten sich in fehlerhafter Orthographie über die harten Zeiten:
    Zum Glück, hieß es auf der dem Datum nach letzten Karte, hat dein Vater Arbeid gefunden als Nachtswechter beim Wasserwerk. Uns geht es gans gut... usw.
    Die Karten brachten mich auf den Gedanken, daß ich den alten Leuten eigentlich einen Kondolenzbesuch abstatten müßte, sobald ich wieder in Paris war. Scheißverpflichtung! Ich notierte mir die Adresse: Villa Les Iris, Rue Raoul-Ubac, Châtillon.
    „Haben Sie was gefunden?“ fragte Bernier mit leuchtenden Augen.
    Ich sagte ihm, warum ich die Adresse notiert hatte. Sofort verschwand wieder das Leuchten aus seinem Blick.
    „Genauso wie das hier“, brummte er und zeigte auf etwa zehn vergilbte Blätter. „Das würde uns vielleicht weiterhelfen, wenn der noch leben würde.“
    „Colomer?“
    „Nein. Der, von dem da drin die Rede ist. Das sind Zeitungsartikel. Berichten über Georges Parry, den international berüchtigten Perlendieb. Sie wissen schon: Jo Tour Eiffel.“
    Und ob ich das wußte! Dieser Parry begeisterte sich für Bilder- und Kreuzworträtsel, Rate- und Wortspiele — also für Kindereien aller Art. Als Unterschrift unter seine Briefe setzte er einen Eiffelturm. Einmal hatte ich das Vergnügen gehabt, Jo Tour Eiffel eine Falle zu stellen, in die er, gerissen wie er war, auch tatsächlich getappt war. Aber der elegante, kultivierte Gangster — spezialisiert auf Perlendiebstahl und Einbrüche in Juweliergeschäfte — war nicht im Gefängnis verschimmelt. Außer seinem bemerkenswerten Einbruchsystem besaß er die Fähigkeit, durch Wände spazieren zu können. Den Verwaltungen der französischen Strafanstalten konnte keinerlei Fahrlässigkeit vorgeworfen werden. Überall, in London, Berlin, Wien oder New York, war Jo Tour Eiffel auf die gleiche Art ausgebrochen. Er war ein Meister seines Fachs. Anfang 1938 war er in England gestorben. Seine Leiche hatte man an einem Strand von Cornwall gefunden, von Krebsen halb aufgefressen. Zwischen zwei Fischzügen hatte sich der Perlendieb dort Ferien
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