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120, rue de la Gare

120, rue de la Gare

Titel: 120, rue de la Gare
Autoren: Léo Malet
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behauptet, seit der Verurteilung damals nichts mehr von seinem Chef gehört zu haben. Wir prüfen das nach.“
    Bernier warf seine Kippe in den Ofen.
    „Übrigens“, fuhr er dann nach einer Pause fort, „wissen wir jetzt, was Colomer auf dem Bahnhof wollte.“
    „Ach ja?“
    „Er wollte in die besetzte Zone sprinten.“
    „Sprinten? Seltsames Vokabular... Um zu sprinten, wie Sie sagen, muß man nur...“
    „Ich bleib aber bei dem Wort“, unterbrach mich der Kommissar. „Es trifft genau. Alles deutet auf eine überstürzte Abreise hin. Vielleicht aus Angst? Hat nicht mal seinem Vermieter Bescheid gesagt, und Gepäck hatte er auch keins bei sich. Oder haben Sie einen Koffer bei ihm gesehen?“
    „Nein, in der Tat.“
    „Also, kein Gepäck. Auch einen Passierschein hatte er nicht bei sich. Dagegen war seine Brieftasche gut gefüllt. Wie ich Ihnen bei unserem ersten Gespräch gesagt habe, enthielt sie mehrere Tausend Francs... genauer gesagt, neuntausend. Seit dem Zustrom unserer ,Flüchtlinge’ hat sich die Wohnungsnot hier ganz besonders verschärft. Deshalb mußte Colomer in einem drittklassigen Hotel wohnen, in einer Straße, in der man besser nicht mit großen Summen rumspaziert. Aus diesem Grund bewahrte Ihr Mitarbeiter sein Geld in einem Tresor eines Bekannten auf. Dieser Bekannte hat sich bei uns gemeldet, als er von dem Drama gehört hatte. Es ist Maître Montbrison...“
    „Meinen Sie den Anwalt Julien Montbrison?“ erkundigte ich mich.
    „Genau den. Kennen Sie ihn?“
    „Flüchtig. Wußte nicht, daß er sich in Lyon aufhält.“
    „Sie sind mir ‘n schöner Detektiv!“ lachte Bernier. „Er wohnt seit mehreren Jahren in unserer Stadt.“
    „Meine Aufgabe besteht nicht darin, Wohnungswechsel von Anwälten aufzuspüren“, gab ich zurück. „Könnten Sie mir seine Adresse geben?“
    „Gerne.“
    Er blätterte in den Zeugenaussagen.
    „26, rue Alfred-Jarry“, sagte er.
    „Vielen Dank. Wissen Sie, ich fühl mich so alleine in dieser Stadt. Werd mal bei ihm Vorbeigehen. Ich hoffe, er hat immer noch einen guten Weinkeller?“
    „Da fragen Sie mich zuviel, Monsieur Burma“, antwortete der Kommissar in beleidigter Unbestechlichkeit.
    „Entschuldigen Sie“, lenkte ich lachend ein. „Also, was sagten Sie?“
    „Was?“
    „Die Zeugenaussage von Maître Montbrison...“
    „Ach, ja! Sehr aufschlußreich, seine Aussage. Ihr Bob ist in der Mordnacht zu dem Anwalt gekommen — so gegen elf — , um sein Geld abzuholen.“
    „Komische Uhrzeit, um Geld abzuheben.“
    „Allerdings. Das beweist: Colomer hatte es eilig, und er brauchte sofort Geld. Um nämlich die Grenze zu überschreiten. Werd’s Ihnen gleich erklären. Maître Montbrison war an dem besagten Abend auf einer Gesellschaft. Als er nach Hause kam, wartete Colomer auf ihn. Vorher hatte er alle Orte abgeklappert, wo er den Anwalt hätte antreffen können. Alle möglichen, nur nicht den richtigen, wie immer. Resigniert wartete er also auf Maître Montbrison. Colomer war sehr aufgeregt. Der Anwalt machte sich Sorgen wegen seiner Nervosität und erkundigte sich nach dem Grund. Aber Colomer gab keine Antwort, verlangte nur sein Geld, bis auf den letzten Centime. Ohne jede Erklärung. Kein Wort von einer Reise, nichts. Dabei hatte er sehr wohl die Absicht, Lyon zu verlassen... oder, nach seinem Verhalten zu urteilen, aus der Stadt zu fliehen. Fühlte sich wohl bedroht durch etwas, wovon er erst am späten Nachmittag erfahren haben mußte. Zum ersten Mal war er nämlich gegen sieben im Hause von Maître Montbrison aufgetaucht. Und nicht nur aus Lyon wollte er fliehen, sondern aus der unbesetzten Zone. Deshalb brauchte er das Geld: Er mußte seinen heimlichen Grenzübertritt finanzieren. Sie kommen gerade aus dem Lager und können das vielleicht nicht wissen. Aber man braucht ‘ne Menge Geld für solch eine Aktion. Mutmaßungen, sagen Sie? Nein! Den Beweis für seine Absicht haben wir in dem Futter seines Mantels gefunden. Durch ein Loch in der Tasche waren zwei Bahnfahrkarten — einfach! — gerutscht. Ziel: Saint-Deniaud, ein kleines Kaff in der Nähe von Paray-le-Monial. Es heißt auch ,das Sieb’. Warum, brauch ich Ihnen wohl nicht zu erklären.“
    „Verstehe. Sie sagten: zwei Fahrkarten?“
    „Ja. Bringt Sie das auf eine Idee?“
    „Nein. Ist nur seltsam...“
    „Überhaupt nicht! Die beiden Karten — nur eine davon war entwertet — wurden kurz hintereinander gekauft. Wahrscheinlich hat Colomer die erste in die Tasche
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