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120, rue de la Gare

120, rue de la Gare

Titel: 120, rue de la Gare
Autoren: Léo Malet
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schlechten Geschmack. Heute zum Beispiel trug er einen goldenen Siegelring mit drei Brillanten, von denen einer nicht zu den beiden anderen paßte und so aus dem Ring einen Ramschartikel machte. Aber das war eine läßliche Sünde, die seine Fähigkeiten nicht schmälerte. Er war ein geschickter Anwalt, raffiniert, redegewandt, zynisch und außerdem (wir haben zusammen so manches Glas geleert) ein angenehmer Gesprächspartner.
    Als ich das Büro betrat, legte er eine schöne Ausgabe von Edgar Allen Poe zur Seite und kam mit einem charmanten Lächeln auf mich zu.
    „Burma!“ rief er und streckte mir seine fette Hand hin. „Das ist mal ‘ne angenehme Überraschung! Was führt Sie in unsere Mauern?“
    Während ich auf seine Frage antwortete, befreite er einen Sessel von mehreren juristischen Wälzern. Ich setzte mich. Dann mußte ich ihm erst einmal von meiner Gefangenschaft erzählen. Im allgemeinen ist das den Leuten herzlich egal. Nur aus Höflichkeit heucheln sie Anteilnahme an den erlittenen Strapazen. Nachdem ich mich also diesem Gesellschaftsspiel unterzogen und ein paar Gemeinplätze von mir gegeben hatte, ging ich zu den Dingen über, die mich tatsächlich interessierten.
    „Verdammt!“ rief der Anwalt. „Von Colomers Tod hab ich schon gehört, aber daß Sie Zeuge bei dem Mord waren, wußte ich nicht. Als Begrüßung im zivilen Leben...“
    Er drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus.
    „Ja, das war ziemlich mißlungen“, stimmte ich zu.
    Er reichte mir ein goldenes Zigarettenetui.
    „Nehmen Sie“, sagte er. „Diese Zigaretten finden Sie sonst nirgendwo. Philip Morris. Ich hab noch welche in Reserve.“
    „Wirklich ‘ne seltene Marke, aber... Entschuldigen Sie, ich rauche lieber Pfeife...“
    „Ah, Ihr guter alter Kocher! Wie Sie möchten, Burma.“
    Er gab mir Feuer und zündete sich eine neue Zigarette an. „Um auf Colomer zurückzukommen“, nahm er das Gespräch wieder auf, wobei er den Rauch zur Decke blies, „hat der Meisterdetektiv schon eine Idee?“
    „Nein. Dafür war ich zu lange zu weit weg. Aber die Polizei nimmt an, daß mein Mitarbeiter aus Rache erschossen wurde. Und Ihre Aussage unterstützt diese These.“
    „Sie wissen also Bescheid?“
    „So ungefähr. Ich weiß, daß Bob ein paar Stunden vor seinem Ende hier bei Ihnen war.“
    „Ja. Er wollte das Geld holen, daß er bei mir deponiert hatte...“
    „Moment“, unterbrach ich ihn. „Woher stammte dieses Geld? Acht- oder neuntausend Francs, hab ich gehört. Eine beachtliche Summe... Ich meine, für Colomer. Er war nicht sparsam.“
    „Ich habe keine Ahnung, woher er das Geld hatte... Als ich nach Hause kam, saß er in dem Sessel. Mein Butler wußte nicht, wo ich zu Abend gegessen hatte, nur, daß ich gegen elf wieder zurück sein würde. Colomers Verhalten war sehr besorgniserregend. Haben Sie schon mal Leute gesehen, die furchtbare Angst hatten, Burma?“
    „Ja.“
    „Ich auch. Zum Tode Verurteilte am Morgen ihrer Hinrichtung, zum Beispiel. Genauso verhielt sich Colomer. Ich fragte ihn, ob er krank sei oder...“ Montbrison zögerte: „Dem Kommissar hab ich nichts davon gesagt, aber Ihnen kann ich’s ja anvertrauen. Ich hatte den Eindruck, daß er das gesamte Geld für Rauschgift brauchte.“
    „Neuntausend Francs für Rauschgift!“ rief ich unwillig. „Das glaub ich nicht. Außerdem nahm Colomer keinerlei Rauschmittel.“
    Der Anwalt hob die linke Hand. Wie ein Verkehrspolizist. „Ich bin kein Arzt, um das beurteilen zu können. Aber gehen Sie nicht gleich auf die Palme, Burma. Sie reagieren genauso wie Colomer. Der wurde nämlich auch sehr heftig, als ich ihn danach fragte. Es gab eine kleine Auseinandersetzung zwischen uns... Jetzt bereue ich das natürlich, aber... was soll’s... Ziemlich verärgert, blätterte ich ihm das Geld hin, ohne mir weitere Gedanken um ihn zu machen. Nur der Eindruck von Angst und Verwirrung ist mir in Erinnerung geblieben. Armer Kerl... Ich ahnte nicht, daß ich am nächsten Morgen seinen Tod — und was für einen! — aus der Zeitung erfahren sollte. Offensichtlich war mein Rauschgiftverdacht falsch gewesen. Aber was erklärt sein seltsames Verhalten, seine offensichtliche Angst? War es die Furcht vor Rache? Und warum brauchte er das Geld?“
    „Vor welcher Rache sollte er Angst gehabt haben? Beruflich, politisch oder... Rache aus Leidenschaft?“
    Über Julien Montbrisons Lippen huschte ein Lächeln, das nur er hervorzaubern konnte.
    „Ein Verbrechen aus Leidenschaft
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