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116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)

116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)

Titel: 116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)
Autoren: Thomas Heams-Ogus
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den Predigten von der Kanzel herab zu lauschen. Und sie über sich ergehen zu lassen. Man könnte sagen, dass San Gabriele nur so tat, als ob, und alle spielten das Spiel mit. Seine Kirche war nicht uralt: Ihre jetzige Form hatte sie erst wenige Jahre zuvor im Zuge ihrer Vergrößerung erhalten, weil im vorangegangenen Jahrhundert ein Kind an dieser Stelle die Spuren von Stigmata und Heilung, seinen Namen und seinen vorzeitigen Tod hinterlassen hatte. Sobald diese Wunder von der Kirche anerkannt worden waren, waren aus ganz Italien die Massen herbeigeströmt. Derartige Geschehnisse wühlen die Menschen auf, berühren sie, manche knien nieder oder weinen, andere fangen an, die Nachricht laut zu verkünden, eine Energie wird frei, überträgt sich, strahlt in alle Richtungen, gibt so manchem Leben einen Sinn, wächst, und dann erscheint eines Tages plötzlich ein mysteriöses Prisma, und diese Energie wird darin gebündelt und wieder zurückgeworfen, die gesamte Energie sammelt sich in diesem Prisma, wird zu einem Projekt, wird eine Herausforderung, und eine Kirche wird gebaut. Daneben setzt man eine Herberge. Anschließend wird rasch vergessen, was vorher an der Stelle war, eine Wiese, eine leere Fläche, und die Menschen setzen sich mit vereinten Kräften dafür ein, dem Ort einen Status von Selbstverständlichkeit und von Ewigkeit zu verleihen. Die Steine von San Gabriele waren ein Fortbestehen, ein Fossil gewordenes Strahlen.
     
    Direkt daneben hatte man einen großen Schlafsaal gebaut, den Camerone, um den stetig wachsenden Strom der Pilger darin unterzubringen. Er war noch nicht sehr alt, und Rom hatte es nicht versäumt, ihm seinen Stempel aufzudrücken, sofern man der Inschrift auf dem Grundstein Glauben schenkte:
»Duce Benito Mussolini Generale Passionisti, 2 guigno 1938 «
. Diese Inschrift erinnerte in ihrer grandiosen Knappheit daran, dass der Faschismus allumfassend war und bis in die Steine der Gebäude in den Abruzzen hineinreichte. Mussolini, Oberbefehlshaber des Passionisten-Ordens, sprach durch diese Steine zu den Menschen, das war mineralischer Faschismus, bis diese Steine eines Tages zu Ruinen würden. Und dann war da noch die ausgehöhlte und deformierte »Passion«, die in dieser Inschrift begraben war, dieses glühende Wort, das die Zufälle der Geschichte herunterdekliniert hatten, bis es sich in dem schlummernden, verkümmerten Namen einer unbedeutenden religiösen Bruderschaft wiederfand, ein Wort, das in einen steinernen Kiefer hineingeraten war. Die Passion, von Mussolini gefangen gesetzt, sie saß in der Falle, war zertrümmert, der letzte Überrest eines toten Wortes, das nicht mehr verbreitet werden und auch nicht mehr jene Substanz sein konnte, der es freistand, die Zeit und den Raum zu bestimmen, in dem sie sich entfalten wollte. Sie war hier in eine Inschrift eingefügt, in einen von all den anderen Steinen erdrückten Stein, in einen schweren, behäbigen, bedrückenden Camerone.
    Der Krieg hatte den Pilgereifer abflauen lassen. Dieser erneut der Leere und Kälte überlassene Ort stand zur Verfügung. Dieser Ort hing in der Schwebe, er lag außerhalb der Welt, oder man wünschte es sich so, als ein Zeigefinger sich auf einer Stabskarte auf diesen Namen legte und bestimmte, dass daraus dieses Lager werden sollte, und den Ort dazu verdammte, nur mehr ein Überrest, ein toter Winkel zu sein. Das Heiligtum, durch das Isola zu einem Magneten geworden war und das die Menschen angezogen hatte, war in ein schwarzes Loch verwandelt worden, das aus der Region so etwas wie eine Klammer in der Geographie und im Leben und eine gemiedene Zone machte. Das kreisförmige, einsame, vom Sasso erdrückte Isola, jenes von allem abgerückte Dorf, das seine Distanz selbst verströmte, sank ein. Zunächst hatte sich dieses Gefühl des Rückzuges in sich selbst auf das Heiligtum und dessen unmittelbare Umgebung beschränkt, dann hatte es nach und nach auf die Felder und die Häuser in der Nähe übergegriffen und schließlich auch auf das Dorf. Und obwohl es außerhalb des Dorfes lag, wurde das Heiligtum durch die ihm aufgezwungene Funktion als Lager zu einem neuen Schwerpunkt, einem neuen kalten Metall, welches das Licht verschluckte und das von der unmittelbaren Umgebung zehrte, den Eichen und Akazien, und den Menschen, die ihre Arme nach dem Anderswo ausstreckten. Bald wurden die Chinesen dort interniert. Und von den Menschen und den Steinen, die es hier gab, müsste man erzählen.
     
    Man könnte Blatt
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