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116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)

116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)

Titel: 116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)
Autoren: Thomas Heams-Ogus
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Geschichte und Pläne für die Zukunft in sich, auch wenn diese in der Schockstarre ihres neuen Lebens, in der Unwirklichkeit des kalten Turiner Regens, des Ockers von Siena, verloren gegangen waren. Sie waren also bereits von ihrem Weg abgekommen, aber sie waren am Leben, und sie hatten eine Zukunft vor sich. Im Italien der Zwischenkriegszeit waren sie eine Seltenheit, schwache Repräsentanten ihrer fernen Heimat, als unwahrscheinliche Abenteurer würden sie die Erinnerungen der Kinder bevölkern, die dann später als Erwachsene von diesen seltsamen Chinesen mit ihrem lustigen Akzent erzählen würden, die laut rufend durch die Straßen liefen, um ihre »Kla-watten« zu verkaufen, mit dieser ganz besonderen Betonung, die ihnen eigen war, ein Klischee, ein verallgemeinertes Erkennungszeichen, das ihnen verpasst wurde und sie gleichmachte, und das schon damals unterschlug, was jeder von ihnen Eigenes an sich hatte. Die unterirdischen Bewegungen hatten begonnen.
    Bald würden sie also aus einem Lastwagen steigen, am Dorfausgang von Isola, gegenüber der Kirche des Heiligtums Santuario di San Gabriele, einem Kloster des Passionisten-Ordens. Das Dorf Isola del Gran Sasso trug seinen Namen zu Recht: Es war wirklich eine Insel in den Abruzzen. Das Heiligtum von San Gabriele, das Lager, war der Vorposten, es kündigte das Dorf an. Direkt daneben stand eine Herberge, die denselben Namen trug. San Gabriele gehörte fast zum Dorf, aber der Fußweg zur eigentlichen Siedlung war lang genug, dass auf dem Weg dahin beim Rhythmus der eigenen Schritte Traurigkeit in einem aufsteigen konnte, also zwischen einem und zwei Kilometern, zuerst geht es nur leicht bergab, die Entfernung zu den Gebäuden des Klosters und der Herberge wächst, bald hat man sie im Rücken, dann auf Höhe des Kopfes hinter sich, man geht weiter abwärts und kommt an vereinzelten Häusern vorbei, und manchmal sieht man an einem Fenster einen alten Menschen, man hat genügend Zeit, um mit sich allein zu sein, und dann, in dem Augenblick, wenn man es wirklich ist, kommt eine Biegung und der Weg steigt leicht an, und gleich darauf stößt man auf das Dorf. Man überquert die Brücke, man hört den Fluss rauschen, und schon ist man da. Isola ist ein kleines Labyrinth aus Straßen, man spielt, man würde sich darin verlaufen, wenn man zum ersten Mal dahin kommt. Nachdem man durch die Felder gegangen ist und sich mit Landschaft und wolkenlosen Horizonten aufgeladen hat, ist der Kontrast, wenn man das Dorf betritt, überdeutlich: Man hat sofort einen Eindruck von Enge. Gleich nachdem man die Brücke überquert hat, kann man zum Beispiel durch die Porta del Torrione gehen und gelangt direkt auf die Piazza Codacchio, dort bleibt man einige Augenblicke lang stehen, man staunt und lässt sich von der Höhe der Mauern beeindrucken, das hätte man von außen nicht vermutet, dann verlässt man den Platz wieder, geht durch eine Gasse, dann durch noch eine, und schon steht man auf der Piazza San Giuseppe, und wieder sind da Straßen, und sie erinnern einen an die ersten, es hört gar nicht wieder auf, einmal kann man noch abbiegen und gelangt so auf einen dritten Platz, aber man spürt bereits, dass die Enge wieder nachlässt, dass der Wald nicht mehr weit weg ist, also macht man kehrt, geht ein paar Schritte nach links, eine neue Straße, und wieder die Illusion eines Labyrinths, aber wenn man am Ende rechts abbiegt und an der Kirche San Massimo vorbeigeht, stellt man fest, dass man diese Straße schon gesehen hat, und wirklich, schon steht man wieder vor der Porta del Torrione. In dem Augenblick streckt das Dorf, das sich alle Mühe gegeben hat, das nicht nachgegeben hat, das ein paar Minuten lang riesig gewesen ist, die Waffen und wird endgültig klein.
     
    Im Vergleich dazu versuchte das Kloster von San Gabriele groß und mächtig zu wirken. Es thronte regelrecht über dem Tal, und wenn die Menschen, welche das Leben und die Predigten von der Kanzel herab gelehrt hatten, dass sie klein und unbedeutend waren, von weitem darauf blickten, forderte es ihnen Respekt ab. Wenn diese Menschen dann aber den Blick über die Umgebung schweifen ließen, sahen sie daneben auch den Sasso in seiner erdrückenden Massigkeit und mit seinem gezackten Gipfel. Unter diesem riesigen Gebiss büßte San Gabriele seine Überlegenheit ein. Es gab in der Gegend niemanden, der nicht um diese erlittene Niederlage im Wettstreit um Größe wusste, und dieses Wissen war niemals weit weg, wenn es galt,
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