Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)

116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)

Titel: 116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)
Autoren: Thomas Heams-Ogus
Vom Netzwerk:
zu den Menschen, ihren Körpern, ihren Zweifeln. Schon hätte sie das Dorf erreicht, das sich rund am Zusammenfluss zweier Flüsse duckt, die ebenfalls das Rätsel ihres Fallens mit sich führen. Das geringere Gefälle, das Moos und das Prallen gegen Bäume hätten ihre Geschwindigkeit gedrosselt, so dass sich schon bald ein Ende ihres Weges abzeichnen würde, ein paar hundert Meter noch, aber es würde näher rücken, es wäre nicht mehr nur Spekulation. Die Kugel würde Langsamkeit aufsaugen, sobald sie in dem winzigen Tal, unter den Menschen angekommen wäre, noch mehr Menschen, überall wären auf einmal Menschen, Menschen unter der Sonne, Menschen am Fuß des Berges, auf dem Weg ins Dorf, Menschen auf Brücken, Menschen, die am Leben sind, so wie die Kugel in Bewegung ist, aber alles hat ein Ende, und die mannshohe Kugel würde also langsamer werden, so dass ihr baldiges Anhalten, bevor diese Welt explodiert, nicht mehr abzuwenden wäre. Die nur imaginierte Kugel, erfunden, um sich allmählich anzunähern, diese mit Schrittgeschwindigkeit rollende Kugel würde ihre Reise am Ende jener Straße zwischen den Olivenhainen beenden, an der Stelle, wo die Kirche Santuario di San Gabriele steht, ein imposanter, unerwartet auftauchender, im ganzen Land berühmter Pilgerort. Hier würde die staubüberzogene Kugel liegen bleiben.
    In dieser Welt am Rande der Welt wäre es kurz nach achtzehn Uhr. Es wäre der 16 . Mai 1942 in den Abruzzen, das Dorf hieße Isola del Gran Sasso, ein paar Kilometer südlich von Teramo, es wären zwanzig Grad. Diese Kugel wäre aufgetaucht, um sanft gegen den Entwurf einer Welt zu stoßen und gegen deren zurückgehaltene Wut, denn in dieser isoliert gelegenen, ländlichen Gegend kleidet sich die Wut oft in Schweigen. Die Unschärfe wäre einer Umgebung voller präziser Eindrücke gewichen: die zitternden Blätter, die Falten eines Mannes mit leerem Blick, der abblätternde Anstrich einer Parkbank, der Duft der trockenen Erde und viele weitere, die zu dieser scheinbaren Ruhe beitrügen, und somit zu der verborgenen Wut. Die Kugel würde sich jetzt nicht mehr bewegen.
    Ihr Ende wäre ein Beginn, vor der Kirche San Gabriele, auf deren Schwelle drei Priester stünden, die mit zusammengepressten Kiefern, starr und aufrecht vor Angst, darauf warteten, dass etwas zum Stehen kommt. Das, was da angehalten hätte, wäre allerdings nicht so sehr die imaginäre Kugel aus Blei, sondern vielmehr ein Konvoi von Lastwagen, dem ein imposantes Fahrzeug vorausfährt. Auf der von Tossicia herführenden Straße hätte man ihn näher kommen gehört. Das bloße Quietschen der Reifen auf der Straße hätte genügt, um daraus ableiten zu können, dass sich gleich etwas Ungewöhnliches ereignen würde. Es kamen zwar hin und wieder Autos über diese Straße zum Dorf, aber ein Ohr, das an dieses kleine Land und sein Gleichgewicht der Klänge gewöhnt war, hätte rasch gewusst, dass da etwas nie Dagewesenes näher kam, was sich dann sehr schnell auch bestätigt hätte. Der Konvoi, seine Langsamkeit und die von ihm ausgehende Nervosität hätten vor der Kirche einen weiten Kreis beschrieben. Als Erstes wären Carabinieri ausgestiegen, und hätten, ohne den drei Priestern Beachtung zu schenken, mechanisch die Heckklappen der Lastwagen geöffnet und dem, was sich Lebendiges darin befand, mit nervösen Gesten bedeutet auszusteigen, und daraufhin hätte man beobachten können, wie hundertsechzehn Chinesen herauskletterten. Und schon ist die kleine Kugel aus Metall vergessen.

Italien rüstete sich seit Jahren mit unzähligen Lagern aus. Seit den späten zwanziger und die ganzen dreißiger Jahre hindurch war nach und nach jede Insel des Landes, jedes einsam gelegene Dorf, jeder abgeschiedene, durch jahrzehntelange Auswanderung entvölkerte Landstrich in einen Internierungsort verwandelt worden. Der Krieg war ausgebrochen und hatte, während die Zeiten immer finsterer wurden, seine Kategorien abgesondert, eine nach der anderen: Politische Gefangene waren die Ersten gewesen, mit denen man in dieser Hinsicht Versuche unternommen hatte, später kamen dann Juden und Zigeuner hinzu. Eine bürokratische Maschinerie hatte diese abgelegenen Zonen langsam wiedergekäut und dann verdaut, um dort ihre Stützpunkte der Verbannung einzurichten.
    Die Abruzzen gehörten auch dazu. Die Region war zwar so gut wie ausgeblutet und hatte den Großteil ihrer Arbeitskräfte eingebüßt, aber dafür war sie von den heftigsten Kampfhandlungen des
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher