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116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)

116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)

Titel: 116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)
Autoren: Thomas Heams-Ogus
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Krieges verschont geblieben. Die Machthaber hatten verfügt, dass dort dutzende Lager einzurichten waren, die jedoch ganz verschiedene Formen annahmen. Das reichte von einzelnen Oppositionellen, die in entlegenen Dörfern gefangen gehalten wurden, bis zu unterschiedlich großen Gruppen, die unter mehr oder weniger harten Bedingungen interniert waren. In dieser Region hatten die Machthaber weniger eigens Lager errichtet als vielmehr Gebäude beschlagnahmt, deren Eigentümer dafür zum Teil Miete erhielten. So fügte sich die geruhsame Barbarei des Einsperrens in die Ordnung der Dinge ein, Mietverträge zum Beweis, und machte hier einen Hoteleigentümer reich, dort den Besitzer einer nicht ausgelasteten Fabrik. So war nach 1940 sehr schnell ein bunter Strauß von privaten, ordnungsgemäß ausgehandelten Verträgen geschlossen worden, um in den Abruzzen ein Netz von Lagern einzurichten.
    Diese Erde gehörte einem Volk von Bauern, das der vorangegangene Krieg zugrunde gerichtet hatte, das aber später eines der ersten sein sollte, das sich erhob, sobald Mussolini ins Wanken geriete. Wenn später der gewaltsame Krieg wieder einsetzen würde, würde dieses Volk Blut auf seine Erde fließen sehen, dieses Volk, dessen Schweigen die Machthaber in Rom mit Fügsamkeit verwechselten, hatte direkt vor Ort einen heftigen Schlag versetzt bekommen, indem sein Lebensraum mit Lagern übersät wurde, die wie Stichwunden waren. Während das Land wieder und wieder aufgeritzt wurde, hatten Worte von Dorf zu Dorf die Runde gemacht, und jedes neue Lager ließ die bereits existierenden ein wenig alltäglicher erscheinen. Es war in anderer Form die Fortsetzung einer um sich greifenden Entwicklung, in deren Zuge auch schon andere Schandflecken entstanden waren, nämlich die lokalen faschistischen Zellen. Aber dieser Landstrich bot für so etwas keinen guten Nährboden. Die Leute hatten erlebt, wie Menschen massenweise auswanderten, wie die Industrialisierung chaotisch voranschritt. Die landwirtschaftlich geprägte Gegend erfuhr, wie es ist, wenn es nicht mehr genug Hände für die Arbeit auf den Feldern gibt. In den Mauern dieser Dörfer lebten Frauen, die sich seit über zwanzig Jahren fragten, wie sich der Schmerz angefühlt hatte, als ihr Mann oder ihr Sohn nahe Triest von einer Granate zerfetzt worden war, in konfusen Schlachten, die in der offiziellen Geschichtsschreibung unter den Teppich gekehrt worden waren, aber die aufdringlichen Tiraden der Faschisten konnten sie nicht vollständig überdecken. Es brauchte mehr, um das Volk der Abruzzen zu beeindrucken, ein Volk, das sich in sein Schweigen zurückzog gleichsam als Hommage an seine Verstorbenen, die Abwesenden, und das sich nun auf einmal mit der Anwesenheit all jener konfrontiert sah, denen Rom misstraute, also gewissermaßen mit neuen Schatten.
    Man näherte sich ihnen selten, es war nicht einfach, aber jeder wusste um ihre Anwesenheit. Von Lager zu Lager waren die Bedingungen der Gefangenschaft mal streng, mal weniger streng, und es wurde unterschiedlich sorgfältig auf die Abschottung der dort Internierten von der Außenwelt geachtet. Nur wenige Kontaktpersonen hatten die Erlaubnis, diese Lager zu betreten, Ärzte, Händler und Beamte aus der näheren Umgebung, und diese berichteten draußen von diesen Leben im Verborgenen. Anschließend wanderten die Details von Mund zu Mund, veränderten sich und trafen in jedem Einzelnen auf die Gesichter der für immer Abwesenden.
     
    Politische Gefangene, Juden und Zigeuner also. Doch eines Tages keimte die simple und möglicherweise berauschende Idee auf, alle Chinesen Italiens, mehrere Dutzend Personen, an einem Ort zu versammeln. Sie bedrohten niemanden, aber sie waren Staatsangehörige einer feindlichen Macht, einer von so vielen. Das war ihr einziges Verbrechen, und sie wurden zu Zielscheiben. Man begann, Jagd auf sie zu machen, aber ohne besondere Überzeugung, es war nur so, dass man von einem Tag auf den anderen beschlossen hatte, dass man sie nicht unbehelligt lassen konnte. Sie waren zerstreute Punkte auf Italiens Landkarte, die bald zu einem Punkt zusammengeführt werden sollten, als würde sich eine Faust um sie schließen. Manche lebten in Genua oder in Bologna, als eigenartige, verwirrende Individuen, aber sie waren frei, frei, zu sein, zu kommen und zu gehen, unbedeutende Textilhändler, die auf der Straße Lederwaren, Krawatten oder Gürtel verkauften. Sie waren noch im Besitz ihrer Menschenwürde, jeder von ihnen trug eine
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