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116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)

116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)

Titel: 116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)
Autoren: Thomas Heams-Ogus
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die Zeit und die Chronologie nichts ausrichten. Die Tage waren kleine Klumpen schierer Absurdität, die gegeneinanderstießen und sich zu einer Suppe aus Blei, Zeit, Wunden, Irritationen, Schweigen und in die Ferne gerichteten Blicken vereinigten.
     
    In Isola selbst sah man sie selten, es war, als wäre die Entfernung zwischen dem Kloster und dem Dorf eine Metapher für das Unverständnis, mit dem diese beiden Welten einander gegenüberstanden, für eine von vornherein bestehende Unmöglichkeit. In den Gassen des Dorfes traf man niemals müßige Chinesen an. Niemand versuchte, Zeichen auszutauschen und eine Zeichensprache zu erfinden, man stand nicht am Dorfeingang beisammen, da, wo der Ruzzo sich in den Mavone wirft, rauchte eine Zigarette und blickte auf den Sasso, während man lauschte, wie das Wasser unter der Brücke hindurchrauschte. Wenn man den Chinesen begegnete, dann trugen sie Reisigbündel, zogen Handkarren, kamen vom Berg herunter, nachdem sie oben einen Tag lang Kohle hergestellt hatten, oder folgten ihrem Vorgesetzten für einen Tag zu der Mauer, die es zu errichten galt. Sie hatten weder die Zeit noch die Kraft, um zu sprechen. Chinesen ohne Zeit und Kraft, so wurden sie wahrgenommen, als andere Menschen von weither, die der Welt mit anderen Sitten und Gebräuchen begegneten. Die Brutalität, die auf Italien niederging, verhinderte Freundschaften oder Bündnisse. Dennoch gelang es den Einwohnern von Isola, diesem kleinen Bergvolk, das, wenn man es genau nimmt, mehr Schutzhütten errichtet hatte als funkelnde Kirchen, trotz seiner Distanziertheit und Reserviertheit, trotz seiner Vermeidung von ausführlichen Gesprächen über diese unvorhergesehenen Besucher und trotz seinem Zurückschrecken vor jeder schamlosen Zurschaustellung, diskrete Signale auszusenden, und die Chinesen damit, ohne dafür viele Worte zu brauchen, wissen zu lassen, dass ihnen jenseits ihres Abgrunds, am Ende ihrer Nacht Türen offenstehen würden und dass man sich eines Tages, wenn diese Lethargie endlich zerbrechen würde, wiederfinden würde, um gemeinsam eine etwas würdigere Geschichte zu schreiben.
    Im Übrigen musste sich jeder, der zu ihnen gelangen wollte, mit den Faschisten vor Ort gutstellen. Sie waren es, die ihnen gewisse Beschäftigungen zuwiesen, die ihre Arbeitseinsätze absegneten, so dass es passieren konnte, dass der Blick eines Morgens beim Öffnen der Fenster auf drei Chinesen fiel, die die Straßen fegten. Als gäbe es niemand anderen, der das tun konnte. Solche überflüssigen Arbeiten verstärkten indirekt den Eindruck, dass die Machthaber außerstande waren, ihren Freiheitsentzug zu rechtfertigen. Aber diese törichten Situationen hatten auf die wahren Begegnungen eine betäubende Wirkung, und am Abend sahen die Dorfbewohner diese Männer von weither, die so schwer zu fassen waren, sich wieder auf den langen Weg zu jenem Kloster machen, das außerhalb ihres Sichtfeldes lag und sich hinter ihnen wieder schloss. Aber ignorieren konnte man sie trotzdem nicht. Sie waren eine Realität, ein neues Bewusstsein, ein Teil der Identität des Dorfes. Man redete auf dem Markt über sie, entweder weil man sie dort sah oder weil einer sie erwähnte, man redete abends über sie, im Vertrauten, wenn die Türen geschlossen waren, aber auch auf dem Dorfplatz, und wer seinen Argwohn unter Beweis stellen wollte, ließ es sich nicht nehmen, dies mit lauter Stimme zu tun und just in dem Moment etwas Gutes über sie zu sagen, wenn dieser oder jener Angehörige der lokalen Miliz vorbeiging, dem es angesichts dieser Provokation die Sprache verschlug, gegen die er aber nicht viel ausrichten konnte. Man sprach über sie, als wären sie ganz normale Menschen, die man vielleicht sogar mögen oder über die man sich, warum nicht, sogar lustig machen konnte, man legte etwas Wohlwollen in die offizielle Banalität ihrer Anwesenheit hinein und stellte deren Sinn damit in Abrede. Jeder beeilte sich, als Erster von einer kurzen Unterhaltung mit einem von ihnen zu erzählen und von dem Vergnügen, das er daraus gezogen hatte. Indem man dies alles tat, instrumentalisierte man sie zwar immer noch und akzeptierte damit die Entwürdigung, die sie zu ertragen hatten, aber vor allem war es für viele zu allererst ein klares Mittel, um deutlich zu machen, dass der Faschismus sich hier festfuhr, in dieser abgelegenen Region, wo für gebrüllte Reden niemand empfänglich war. Monatelang erfuhren die Chinesen vielleicht keine offene Unterstützung,
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