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116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)

116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)

Titel: 116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)
Autoren: Thomas Heams-Ogus
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dafür aber spürten sie, dass sie ein willkommener Vorwand waren, sich aufzulehnen. Eine explizitere Verbrüderung wäre zwar vorstellbar gewesen, aber diese hatte in ihrer rudimentären Ausprägung ihre eigene Robustheit. Und es lag auch eine gewisse Eleganz darin. Wer gute Augen hatte, konnte in der Ferne die Schutzhütten ausmachen.
     
    Ein Chinese in den Abruzzen zu sein, das bedeutete in diesen Tagen vor allem, mit Chinesen zusammen zu sein, und dann, Wochen später, mit allen Chinesen Italiens. Man war einer von vielen, gezwungen, sich zusammenzurotten. Jedes Mal, wenn einer von ihnen zusah, wie sich die Sonne auf den Sasso herabsenkte und ein weiterer Tag zu Ende ging, wenn er die Augen schloss und ein paar schüchterne Erinnerungen zuließ, der eine an eine Straße in Siena, der andere an das Lächeln einer Frau, blickte er, sobald er die Augen wieder aufschlug, auf gut hundert Männer, von denen jemand beschlossen hatte, dass sie seinesgleichen waren. Jedes Mal, wenn ein Chinese einen anderen Chinesen ansah, war das eine kleine Demütigung. Nicht immer empfanden sie die Demütigung als solche, aber diese Augenblicke waren wie Treibsand, der sie begrub. Der Versuch, sich nicht anzusehen, wurde zu so etwas wie einer beginnenden inneren Revolte. Doch der Krieg war stärker. Mit Beginn des Krieges wurde aus der Freiheit eine verwüstete Stätte, und die Zeit fiel ebenfalls der Verwüstung anheim. Es waren nicht länger Sekunden, die vergingen, sondern Ruinen-Sekunden, und in jeder Brust schlug das Herz des Vergessens, dem sie den Rhythmus vorgaben. Vielleicht würde eines Tage eine chaotische Kraft kommen, die diese Schläge wieder ausgrub, mitsamt der Leiber und der Leben, die darum herum waren. Vielleicht würde sie die Form eines Gedenkens haben. Das würde aber erst geschehen, wenn die Zeit dafür gekommen wäre, nämlich nachdem sich der Donner der Verwüstungen im Rascheln der Sommergräser verloren hätte.
    So lebten sie, unter Beobachtung und angekettet an Fragezeichen, die ihnen folgten wie ihr Schatten. Sie stammten fast alle aus benachbarten Dörfern in der Provinz Zhejiang und hatten von dort Gebräuche mitgebracht, die sie teilten, Gewohnheiten und ein gemeinsames Zeichensystem, aber auch Streitigkeiten und Spannungen, die zwar den Augen der Abruzzenbewohner verborgen blieben, aber viele Schwierigkeiten erklärten. Manche waren einander ein paar Monate zuvor in Venedig oder Brescia begegnet, manche hatten geschäftlich miteinander zu tun gehabt, zwischen manchen hatte es Streit gegeben. Es gab Freundschaften und ungelöste Konflikte zwischen ihnen, es gab Groll, Gräben, sie wussten um die Verschiedenheit ihrer Leben, aber man warf sie alle zusammen und ließ sie als homogenes Kollektiv plötzlich auf der Bildfläche erscheinen. Sie sollten als Anzeichen einer kompakten Präsenz erscheinen. Liebhaber sein, Händler, Vater, Reisender oder Mitspieler, das war alles nicht mehr möglich, unbeugsam sein war nicht mehr möglich: Indem man sie dort zusammentrieb, bestimmte man auch, was sie zu sein hatten. Sie waren nur noch die Chinesen, mit genau dem Zeichen auf der Stirn, das sie unermüdlich loszuwerden versucht hatten. Sie waren der Beweis für die Macht des faschistischen Staates, derlei Transporte anzuordnen, derlei Verpflanzungen zu versuchen. Und alles, was mit ihnen zu tun hatte, miteinander zu vermischen. Chinese und Eingesperrter, hier war man das eine, wenn man das andere war, man war die schweigende Akzeptanz dieser beiden Grenzen, man bewegte sich dazwischen, in dem, was sie trennte. Der Faschismus war die Macht der Grenzen, er legte den Raum trocken und machte eine lächerliche Anzahl von Grenzen daraus, zwischen denen die Leben der Menschen die Unendlichkeit der Leere erforschten. Schließlich hatte er, begleitet von lautem Propagandagetöse, die Sümpfe der Pontinischen Ebene in der Region Latium trockengelegt, warum also nicht auch das Relief dieser Leben? Er machte die Berggrate spitz, er walzte nieder. Und um zu überleben, sprangen die Menschen von Grat zu Grat, um sich festzuklammern, ständig in Gefahr abzurutschen. Jeder wusste, dass die anderen eine ähnliche kleine Ansammlung von Graten waren, kein ganzer Mensch. Und in diesem Zurasen auf den Abgrund hieß, eingesperrter Chinese zu sein, wenn man es sich recht überlegt, nicht einmal, dass man versuchte, zwischen diesen beiden Worten zu existieren. Es war schlimmer, es hieß, ihre Redundanz ertragen zu müssen. Das eine war das
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