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116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)

116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)

Titel: 116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)
Autoren: Thomas Heams-Ogus
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für Blatt mit diesen Ereignissen füllen und ein handliches, kleines Heftchen voller Anekdoten daraus herstellen. Man könnte sogar von der Monotonie erzählen, die dort herrschte. Aber den Tag eines in Isola internierten Chinesen würde man in solch einem Bericht nicht einfangen können. Natürlich wies jeder Tag seinen linearen Ablauf und unvorhergesehene Ereignisse auf, die ihm seine Dauer verliehen. Natürlich hatte jeder Tag seine Rituale, die Zeit des Aufstehens, festgelegte Abläufe, die Gesichter, denen man begegnete. Aber es schien, als würden diese ruhiggestellten Leben, vergleichbar mit einem Berg, bei dem ein Aufschluss dies ans Tageslicht bringen würde, mehrere Schichten bilden, sie waren Anhäufungen, übereinander gelagert, und ihre Formen flossen ineinander, um sich gegenseitig aufzuheben. Es war möglich, sie zu zerlegen, aber dabei würden sie alles Intime und Gemeinsame verlieren, alle Grenzen und alle Stellen, wo sie sich aneinander rieben, würden mürbe und fielen auseinander. Die Zeit konnte ruhig versuchen zu vergehen, sie fand darin keinen Halt. Sie herrschte hier nicht. Sie konnte nichts ausrichten gegen ihre Verwirrung und Verzweiflung, dort zu sein, weit weg von der Heimat, gleich, ob freiwillig oder gezwungenermaßen, und nicht in der Lage, diesen Widerspruch zu lösen, der in jedem wie ein zähes, klebriges Gift war: China verlassen, sich an die Ferne klammern, in der Hoffnung auf ein Leben, zu diesem Zweck ein Schiff besteigen, eines Tages in Neapel von Bord gehen, das war eine Sache, das bedeutete, seinem Leben einen Sinn zu geben und eine Achse zu ziehen; sich aber hier in den Abruzzen wiederzufinden, weil die Welt implodierte, weil irgendjemand irgendwo beschlossen hatte, dass Chinese zu sein hieß, dass man ein potentieller Feind war, das richtete sie zugrunde. Das bisschen Sinn, das darin bestanden hatte, eines Morgens an Bord eines Schiffes nach Europa zu gehen, die Augen zu schließen, um nicht sehen zu müssen, wie das letzte Stück Land von China verschwindet, dieser ganze Sinn, diese ganze kleine Freiheit eines Menschen, die darin bestanden hatte, sich auf jenen Ablegesteg zu begeben, der ganze Anspruch, überall auf der Welt Mensch zu sein, all das war von dieser Gefangenschaft hinweggefegt worden, die unter dem Sasso tonlos herausschrie, dass man Chinese war, dass man in der Falle saß, dass man anders war.
    Dieses Lager mit seiner relativ entgegenkommenden Verwaltung, die Priester, die sie sehr freundlich empfingen, das alles war ohne Bedeutung angesichts der blödsinnigen Falle, in der diese Leben hier feststeckten.
    Die Internierten konnten es sogar verlassen, sie konnten arbeiten, einigen war es sogar erlaubt, das dreißig Kilometer entfernte Teramo aufzusuchen. Man gewährte ihnen einen Anflug von Vertrauen und Großzügigkeit. Aber selbst noch diese Duldungen, wenn nicht sogar gerade diese, erinnerten sie daran, dass ihre Leben der Erlaubnis bedurften. Angenommen zu werden, das bedeutete, dass sie hier, zwischen den Eichen und Akazien, entbehrlich waren, überflüssig. Angenommen zu werden, und herzlich noch dazu, das bedeutete, ständig daran erinnert zu werden, dass es genauso gut auch anders sein konnte. Besonders deutlich wurde dies durch eine Zurechtweisung Mussolinis, der angesichts der wachsenden Sympathie der Abruzzen-Bewohner für die Internierten die Zeit fand, in einer an die lokalen faschistischen Zellen gerichteten Nachricht verlauten zu lassen: »Offenbar werden diese Individuen als arme Teufel angesehen, die sich nichts haben zuschulden kommen lassen, außer dass sie Juden, Franzosen oder Levantiner sind. Doch sie sind gefährlich, und man muss ihnen üble Absichten unterstellen.« Auf diese Weise befahl der Herr über Italien, der alle Hände mit dem Weltkrieg zu tun hatte, den lokalen Vertretern der Partei, ihre Propaganda zu verstärken, um diese Menschen von der Bevölkerung abzuschirmen. Sie mochten zwar unwichtig sein, und niemand schenkte ihnen, nachdem sie die Grenze zu Teramo überquert hatten, weiter Beachtung, aber es gab trotzdem Spitzel, die dafür sorgten, dass ihre Existenz auf dunklen Wegen Eingang in Mussolinis Sprache fand. Von dieser Instruktion erfuhren sie nichts, die später um sie herum aber dennoch ihre Auswirkungen entfalten würde, welche allerdings nicht besonders effizient waren. Es war der Zeitpunkt, als sich ein Gefühl von totaler Verlassenheit über alles legte, auch wenn kein heftiges Leid sichtbar war. Dagegen konnten
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