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1086 - Der Vampir und der Engel

1086 - Der Vampir und der Engel

Titel: 1086 - Der Vampir und der Engel
Autoren: Jason Dark
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mit einer fahrigen Bewegung wischte sie über die Stirn.
    Eine Männerstimme schreckte sie auf. »Kann ich Ihnen helfen, Madam?«
    Der freundliche Klang holte sie zurück in die Wirklichkeit. Der Mann hatte sich breitbeinig vor ihr aufgebaut, um nicht zu stark zu schwanken.
    »Danke, es geht schon. Nur ein kleiner Schwächeanfall. Ich bin zu sehr gelaufen.«
    »Wenn das so ist? Sollten Sie Hilfe brauchen, ich stehe zu Ihrer Verfügung.«
    Estelle hob den Blick. Ihr gefiel, was sie sah. Der Mann trug blaue Jeans, dazu ein schlammfarbenes Jackett aus Wintertweed, feste braune Schuhe und ein Wollhemd ohne Krawatte. An seiner rechten Hand blinkte ein Ehering. Das dunkelbraune Haar war recht kurz geschnitten, zeigte aber eine große Dichte. Lachfältchen hatten sich um die Augen herum gebildet, und auch der Mund lächelte, während die braunen Augen sie prüfend musterten.
    »Danke«, sagte sie und ärgerte sich über ihre Stimme, die leicht kratzig klang.
    »Fahren Sie auch bis London?«
    »Ja.«
    »Das wird noch eine lange Nacht.«
    »Bestimmt.«
    Der Fremde reichte ihr die Hand. »Ich heiße übrigens Bill Conolly.«
    »Estelle Crighton.« Sie fühlte den warmen Händedruck und fragte sich zugleich, weshalb sie dem Fremden ihren Namen überhaupt gesagt hatte. Sonst war sie auch nicht so vertrauensselig. Beinahe schon hastig zog sie die Hand wieder zurück.
    »Kann ja sein, daß wir uns im Laufe der Nacht noch sehen. Ich bin im Speisewagen.«
    »Da werde ich auch hingehen.«
    »Haben Sie reservieren lassen?«
    »Nein.«
    Conolly verzog das Gesicht. »Dann wird es nicht leicht sein, einen Platz zu ergattern. Er ist ziemlich ausgebucht, wie ich hörte. Aber«, jetzt lächelte er. »Sie haben Glück.«
    »Wieso?«
    »Weil an meinem Tisch noch ein Platz frei ist. Sie können es sich ja überlegen. Bis später vielleicht.« Er ging, und Estelle Crighton schaute ihm nach.
    Sie schüttelte über sich selbst den Kopf und war schon leicht ärgerlich. Wie komme ich nur dazu, einem Fremden so zu vertrauen? Diese Frage stellte sie sich öfter. Es war sonst nicht ihre Art. Auch wenn ihr sie als extrovertierte Person zeigte, im Privatleben war sie eher introvertiert. Ihre wenigen Freunde bezeichneten sie oft schon als zu scheu und zurückgezogen. So war sie kaum auf irgendwelchen Mode-Events zu finden, und auch von Partys hielt sie sich fern, wenn eben möglich.
    Jetzt war alles anders.
    Noch immer im Gang stehend und das leichte Schwingen des Zugs durch Körperbewegungen ausgleichend, dachte sie über den Mann nach. Sie hatte nicht den Eindruck, als wollte er sie plump anmachen. Er sah zwar gut aus, aber er war nicht der Typ, der so etwas nötig hatte. Zudem hatte sie den Ehering an seiner Hand gesehen. Vielleicht war er einfach nur nett und besorgt gewesen? Auch das sollte es in dieser ansonsten kalten Welt noch geben.
    Es wurde Zeit, daß sie wieder ihr Abteil erreichte. Sie nahm den Koffer und legte die letzten Schritte bis zu ihrem Abteil zurück. Wieder beschleunigte sich ihr Herzschlag, und wieder konnte sie den Grund nicht sagen. Dieser Zug war vom äußeren Bild her völlig normal. Nichts wies darauf hin, daß etwas passieren würde, und trotzdem war da dieses dumpfe Gefühl Angst?
    Durchaus möglich. Es konnte eine tiefe Angst sein, die jetzt allmählich hochgespült wurde, und die sich schon viele Jahre über versteckt gehalten hatte.
    Vor der Tür blieb sie stehen. Der Koffer schien mit Bleiplatten bepackt zu sein. Sie schaute in das Abteil - und fand es leer.
    Es wäre jetzt Zeit für sie gewesen, einen Jubelschrei auszustoßen. Vergessen waren die Ängste und bedrückenden Gefühle. Es war alles so, wie Estelle es sich erhofft hatte. Sie brauchte nur die Abteiltür aufzuziehen und einzutreten.
    Noch zögerte sie. Wieder brachte sie ihr Gesicht dicht vor die Scheibe. Sie durchsuchte jede Ecke wie jemand, der absolut auf Nummer Sicher gehen will.
    Da war nichts zu sehen. Nichts, vor dem sie sich hätte fürchten müssen. Aber sie lächelte auch nicht erleichtert, weil sie daran dachte, wie lange die Fahrt noch dauern würde. In der Zwischenzeit konnte viel, sehr viel passieren.
    Mit einer heftigen Bewegung zog Estelle Crighton die Abteiltür auf. Noch blieb sie auf der Schwelle stehen und saugte die Luft ein. Hier durfte nicht geraucht werden, die Luft hätte also rein sein müssen, und trotzdem störte sie etwas.
    Estelle konnte nicht sagen, was das für ein Geruch war. Sie stellte nur fest, daß sie übersensibel
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