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0968 - Die Greise von Eden

0968 - Die Greise von Eden

Titel: 0968 - Die Greise von Eden
Autoren: Adrian Doyle
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in der zwar andere Personen existierten, die aber nur, obgleich vermeintlich greifbar, nur in seiner Vorstellung vorkamen. Genau wie jedes Ding, jede Pflanze, jedes Tier.
    Hogarth seufzte zum zweiten Mal innerhalb einer Minute. Diesmal, weil ihm seine eigene These einen schalen Nachgeschmack im Mund bescherte. Zu naheliegend war der Gedanke, dass vielleicht schon das Leben, das er vor seinem Zusammentreffen mit Zamorra und seinem Kontakt mit dem Übersinnlichen geführt hatte, nur eine Art Traum gewesen sein könnte. Diesen Traum musste noch nicht einmal er selbst träumen. Vielleicht war es Gott, der sie alle, die an ihr reales Leben glaubten, lediglich träumte.
    Eine höhere Entität also, deren Traumgespinste in der Lage waren, eigene Gedanken und Ideen zu entwickeln, sodass sie im Normalfall gar nicht in die Versuchung gerieten, ihre Existenz infrage zu stellen…
    Der dritte Seufzer in Folge rief eine Reaktion hervor.
    »Was ist denn?«, fragte die alte Frau neben ihm.
    Der gemietete Jeep rumpelte über eine Piste, die nur von grenzenlosen Optimisten »Straße« genannt worden wäre.
    »Ist dir der Flug auf den Magen geschlagen? Mir hat er gefallen. Kein einziges Monster in der Kabine oder als Mitreisender auf einem der Tragflügel - was will man mehr? Der Exorzismus scheint funktioniert zu haben.«
    »Ich würde nicht so vorschnell urteilen«, erwiderte Hogarth, dessen Hände das verblichene Plastiklenkrad umklammert hielten und immer wieder ruckartig mal nach rechts, mal nach links drehten, um plötzlich auftauchenden Schlaglöchern auszuweichen. Oft genug waren die Schäden in der Asphaltdecke aber so breit gestreut, dass es kein Entkommen gab. Dann krachte es jedes Mal bedenklich in den Radachsen. Dass sie noch nicht liegen geblieben waren, grenzte an ein Wunder. »Dafür sind wir noch nicht lange genug unterwegs, oder?«
    Nele Großkreutz, die Greisin, die bei allen Falten und Altersgebrechen nicht annähernd so jung war, wie sie aussah, sagte: »Keine Ahnung. Es wird sich herausstellen, würde ich sagen. Der Professor hat einiges drauf, das wissen wir beide zur Genüge. Wenn ich es jemandem zutraue, mich von meinem Fluch zu befreien, dann ihm.«
    Während sich der Jeep ihrem Etappenziel näherte, rief er Hogarth in Erinnerung, was er über den von Nele erwähnten Fluch wusste.
    Dabei verschlug es ihm trotz aller Bemühungen einmal mehr den Atem. Das Bewusstsein, neben einem Menschen zu sitzen, der atmete - lebte! - und mit ihm sprach, obwohl seine Geburt bis ins ausgehende 12. Jahrhundert zurückreichte, war mehr, als Hogarth bisweilen verdauen konnte.
    Nele Großkreutz war dabei gewesen, als ein Junge namens Nikolaus im Jahr des Herrn 1212 eine Kinderschar um sich versammelt hatte und mit ihr aufgebrochen war, um Jerusalem von den Ungläubigen zu befreien - nicht mit Waffengewalt, sondern mit der reinen Kraft ihrer unschuldigen Herzen.
    Das Unternehmen war als der »Kinderkreuzzug« in die Annalen der Geschichte eingegangen - und zum Desaster geworden. Der Anführer der christlichen Heerschar, Nikolaus, war Neles große Liebe gewesen, aber sie hatte sich von ihm getrennt, noch bevor er Jerusalem erreichte.
    Lange war sein Schicksal für sie im Dunkeln geblieben - viele Jahrzehnte. Bis er eines fernen Tages vor der Tür ihres Hauses, das sie in Rostock bewohnt hatte, erschienen war. Ein junger, kraftstrotzender Mann, den Nele zuerst für Nikolaus' Sohn gehalten hatte - bis er ihr erklärte, es selbst, Nikolaus also, zu sein.
    Das hatte sie ihm nicht gleich abgenommen - aber er hatte noch alles gewusst, was sie jemals verband. Und mit jedem Wort - so hatte Nele Paul Hogarth erzählt - war die Gewissheit in ihr gewachsen, es tatsächlich, so unfassbar es schien, mit der wahrhaftigen Liebe ihrer Jugend zu tun zu haben.
    Nikolaus hatte ihr eine ebenso wunderliche wie ergreifende Geschichte erzählt, angefangen bei der endgültigen Zerschlagung seines Befreiungstraums, bis hin zu seiner Flucht aus der Gefangenschaft Saladins, in deren Verlauf er das größte Wunder überhaupt erfahren hatte: Ihm war es nach eigener Aussage gelungen, den biblischen Garten Eden zu finden und zu betreten. Und dort, im Paradies, aus dem Gott die Menschen einst verstieß, so Nikolaus, habe er Früchte vom Baum des Lebens gegessen.
    Seither war er nicht mehr gealtert.
    Damals war er nach Rostock gekommen, um sie endlich, nach so vielen Jahrzehnten, auch Anteil an dem Wunder nehmen zu lassen. Er hatte sie als Greisin vorgefunden und
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