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Osten, Westen

Osten, Westen

Titel: Osten, Westen
Autoren: Salman Rushdie
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Guter Rat ist kostbarer als Rubine
    Am letzten Dienstag des Monats brachte der Frühbus, die Scheinwerfer noch aufgeblendet, Miss Rehana vor das Tor des Britischen Konsulats. Er bremste in einer Staubwolke, die ihre Schönheit vor den Augen der Fremden verhüllte, bis sie ausstieg. Der Bus war grell mit bunten Arabesken bemalt. Auf der Stirnseite stand in grünen und goldenen Lettern PLATZ DA, SCHÄTZCHEN! Auf dem Heck stand TATA-BATA und außerdem O. K. ALLES GUTE! Miss Rehana sagte dem Fahrer, es sei ein wunderschöner Bus, woraufhin er hinaussprang, ihr die Tür aufhielt und sich, als sie ausstieg, übertrieben tief vor ihr verbeugte.
    Miss Rehanas Augen waren groß und schwarz und so glänzend, dass sie der Hilfe von Antimon nicht bedurften, und als der Beratungsexperte Muhammad Ali diese Augen sah, hatte er das Gefühl, selbst wieder jung zu werden. Er beobachtete, wie sie sich, während das Tageslicht zunahm, dem Konsulatstor näherte und sich an den bärtigen lala in seiner Khaki-Uniform mit den Goldknöpfen und der Kokarde am Turban wandte, um ihn zu fragen, wann das Tor geöffnet werde. Der lala, sonst immer so schroff zu den Dienstagsfrauen des Konsulats, antwortete Miss Rehana so, dass es schon fast an Höflichkeit grenzte.
    «In einer halben Stunde», erklärte er mürrisch, «vielleicht
in zwei Stunden. Wer weiß? Die Sahibs sitzen beim Frühstück. »
    Der staubige Platz zwischen der Bushaltestelle und dem Konsulat wimmelte bereits von Dienstagsfrauen, manche von ihnen tief verschleiert, nur wenige mit völlig unverhülltem Gesicht wie Miss Rehana. Sie alle wirkten ängstlich und stützten sich schwer auf den Arm eines Onkels oder Bruders, der sich jeweils große Mühe gab, selbstsicher dreinzublicken. Miss Rehana dagegen war allein gekommen und schien überhaupt keine Angst zu haben. Muhammad Ali, der sich darauf spezialisiert hatte, die am unsichersten wirkenden der allwöchentlich erscheinenden Ratsuchenden anzusprechen, merkte plötzlich, dass seine Füße ihn unwillkürlich zu dieser seltsamen, großäugigen und selbstbewussten jungen Frau hinübertrugen.
    «Miss», begann er, «Sie kommen wegen Permit nach London, glaube ich?»
    Sie war zu der kleinen Shanty Town, einer Ansammlung von baufälligen Holzhütten am Rande des Platzes, gegangen und kaute vor einem Imbissstand zufrieden Chili- pakoras. Als sie sich umwandte und ihn ansah, spielten ihre Augen so aus der Nähe seinem Verdauungstrakt übel mit.
    «Das ist richtig.»
    «Erlauben Sie mir dann bitte, Ihnen einen guten Rat zu geben? Kostet nur wenig.»
    Miss Rehana lächelte. «Guter Rat ist kostbarer als Rubine», gab sie zurück. «Aber bezahlen kann ich leider nichts. Ich bin eine Waise und gehöre nicht zu den reichen Damen, die Sie gewohnt sind.»
    «Vertrauen Sie meinen grauen Haaren!» Muhammad Ali ließ nicht locker. «Meine Ratschläge beruhen auf reicher Erfahrung. Sie werden sie sicher gut finden.»
    Sie schüttelte den Kopf. «Ich sage Ihnen doch, ich bin ein
sehr armes Ding. Hier sind Frauen mit männlichen Verwandten, die alle gut verdienen. Gehen Sie zu denen! Guter Rat sollte gutes Geld wert sein.»
     
    Ich bin verrückt, dachte Muhammad Ali, denn er hörte seine Stimme völlig eigenmächtig sagen: «Miss, das Schicksal hat Sie zu mir geschickt. Was soll ich machen? Es war uns vorbestimmt, uns hier zu treffen. Ich bin auch nur ein armer Mann, Ihnen aber gebe ich meine Ratschläge gratis.»
    Wieder lächelte sie. «Dann sollte ich sie mir anhören. Wem das Schicksal etwas schenkt, der erhält stets etwas Gutes.»
     
    Er geleitete sie zu dem niedrigen Holzschreibtisch in seiner Ecke der Shanty Town. Im Gehen aß sie weiter pakoras aus der kleinen Zeitungspapiertüte. Ihm bot sie keine davon an.
    Muhammad Ali legte ein Kissen auf den staubigen Boden. «Bitte, Platz nehmen!» Dem kam sie nach. Während er sich mit untergeschlagenen Beinen hinter dem Schreibtisch niederließ, war ihm klar, dass zwei bis drei Dutzend männlicher Augenpaare ihn neidisch beobachteten, dass sämtliche Männer hier die junge Schönheit begutachteten, die sich von diesem alten, grauhaarigen Gauner reinlegen ließ. Um sich zu beruhigen, atmete er tief durch.
    «Den Namen, bitte!»
    «Miss Rehana», antwortete sie. «Verlobt mit Mustafa Dar aus Bradford, London.»
    «Bradford, England», korrigierte er sie freundlich. «London ist nur eine Stadt wie Multan oder Bahawalpur. England ist ein großes Land, bewohnt von den kältesten Fischen der ganzen
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