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Osten, Westen

Osten, Westen

Titel: Osten, Westen
Autoren: Salman Rushdie
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Papier?», fragte sie, während ihre Augen ihn jetzt ganz unverkennbar anlachten.
    Seine Stimme wurde ganz, ganz leise: «Ein britischer Pass, Miss Rehana. Absolut echt und über jeden Verdacht erhaben. Ich habe einen guten Freund, der Ihren Namen und ein Foto von Ihnen da hineinpraktiziert, und dann, in null Komma nichts – England, ich komme!»
     
    Er hatte es gesagt!
    Heute, an diesem Tag des Wahnsinns, war alles möglich. Vermutlich würde er ihr das Ding gratis und franko geben und sich dafür dann ein Jahr lang selbst in den Hintern treten.
    Du alter Narr!, schalt er sich. Die ältesten Narren lassen sich von den jüngsten Mädchen betören.

     
    «Dass ich Sie recht verstehe», sagte sie zu ihm. «Sie schlagen mir vor, eine Straftat zu begehen ...»
    «Keine Straftat», fiel er ihr ins Wort. «Nur einen leichteren Weg.»
    «... illegal nach Bradford, London, zu reisen und damit die schlechte Meinung zu bestätigen, die diese Konsulats-Sahibs von uns allen haben. Alter babuji, das ist wahrhaftig kein guter Rat!»
    «Bradford, England», korrigierte er sie traurig. «So sollten Sie mein Geschenk nicht sehen.»
    «Wie denn dann?»
    «Ich bin ein armer Mann, bibi, und habe Ihnen dieses Angebot gemacht, weil Sie so wunderschön sind. Spucken Sie nicht auf meine Großzügigkeit. Nehmen Sie das Papier! Oder nehmen Sie es nicht, fahren Sie nach Hause und vergessen Sie England! Nur: Gehen Sie nicht in dieses Haus da, wo Sie bloß Ihre Würde verlieren!»
    Aber sie war schon aufgesprungen, wandte sich von ihm ab und marschierte auf das Tor zu, wo sich die Frauen inzwischen versammelt hatten und der lala ihnen barsch befahl, sich zu gedulden, weil sonst keine von ihnen eingelassen werde.
    «Dann machen Sie sich eben zum Narren!», rief Muhammad Ali ihr nach. «Was kümmert’s meine Väter?» (Das hieß, was kümmerte es ihn.)
    Sie drehte sich nicht um.
    «Das ist der Fluch, der auf unserem Volk liegt», schrie er. «Wir sind dumm, wir sind unwissend, und wir wollen einfach nicht lernen.»
    «He, Muhammad Ali», rief die Frau vom Betelnussstand herüber. «Die Dame hält wohl mehr von jüngeren Männern. »

     
    An diesem Tag lungerte Muhammad Ali nur noch in der Nähe des Konsulatstores herum. Immer wieder schalt er sich selber: Geh weg von hier, du alter Esel! Die Dame will nicht mehr mit dir reden. Doch als sie dann herauskam, entdeckte sie, dass er dort wartete.
    «Salaam, Beratungs- wallah!», begrüßte sie ihn.
    Sie wirkte ganz ruhig und schien ihm nicht mehr böse zu sein. Mein Gott, ya Allah, dachte er, sie hat es geschafft! Auch die britischen Sahibs sind in ihren Augen ertrunken, und sie hat ihre Passage nach England.
    Hoffnungsvoll lächelte er sie an. Und sie erwiderte sein Lächeln freimütig.
    «Miss Rehana Begum», sagte er, «meinen Glückwunsch, Tochter, für das, was offensichtlich die Stunde des Triumphs für Sie war.»
    Spontan ergriff sie seinen Unterarm. «Kommen Sie», sagte sie, «ich lade Sie zu einer pakora ein, um mich für Ihren guten Rat zu bedanken und mich außerdem für meine Unhöflichkeit zu entschuldigen.»
     
    Sie standen im Staub des nachmittäglichen Platzes neben dem Bus, der zur Abfahrt gerüstet wurde. Kulis befestigten Bettrollen auf dem Dach. Ein Straßenhändler versuchte den Passagieren schreiend Liebesromane und grüne Pillen zu verkaufen  – beides gegen Traurigkeit. Miss Rehana und ein glücklicher Muhammad Ali saßen auf der vorderen Stoßstange des Busses und aßen ihre pakoras. Der alte Beratungsexperte begann leise die Melodie einer Filmmusik zu summen. Die Hitze des Tages hatte sich gelegt.
     
    «Es war eine arrangierte Verlobung», erzählte Miss Rehana unvermittelt. «Als meine Eltern sie aushandelten, war ich erst neun Jahre alt. Mustafa Dar war damals schon dreißig, aber
mein Vater wollte einen Mann, der sich um mich kümmerte, wie er selbst es immer getan hatte. Und Mustafa war ein Mann, den daddyji als einen zuverlässigen Menschen kannte. Dann starben meine Eltern. Mustafa Dar ging nach England und versprach, mich nachkommen zu lassen. Das ist viele Jahre her. Ich habe ein Foto von ihm, aber er ist ein völlig Fremder für mich. Selbst seine Stimme erkenne ich nicht am Telefon.»
     
    Dieses Geständnis überraschte Muhammad Ali, aber er nickte mit einer Miene, die, wie er hoffte, Weisheit ausdrückte.
    «Dennoch und trotz alledem», sagte er, «die Eltern handeln immer zum Besten ihrer Kinder. Die Ihren haben einen guten, ehrlichen Mann für Sie
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