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Osten, Westen

Osten, Westen

Titel: Osten, Westen
Autoren: Salman Rushdie
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gefunden, der sein Wort gehalten hat und Sie nachkommen lassen will. Und nun haben Sie ein ganzes Leben vor sich, um ihn kennen- und lieben zu lernen.»
     
    Die Bitterkeit, die sich auf einmal in ihr Lächeln schlich, verwirrte ihn.
    «Warum, guter Mann», fragte sie, «haben Sie mich denn schon auf die Reise nach England geschickt?»
    Zutiefst erschrocken sprang er auf.
    «Sie haben so glücklich ausgesehen ... Wenigstens kam’s mir so vor ... Entschuldigen Sie, aber wurden Sie etwa abgewiesen? »
    «Ich habe alle Fragen falsch beantwortet», entgegnete sie. «Ich habe unverwechselbare Kennzeichen auf die falschen Wangen verlegt, habe das Badezimmer völlig anders eingerichtet und überhaupt alles auf den Kopf gestellt. Verstehen Sie?»
    «Aber was werden Sie jetzt tun? Wie soll es mit Ihnen weitergehen? »
    «Ich werde nach Lahore zurückkehren, und zu meiner
Arbeit. Ich bin in einer großen Villa als ayah für drei liebe Jungen angestellt. Sie wären sehr traurig gewesen, wenn ich sie verlassen hätte.»
     
    «Das ist ja eine Tragödie!», lamentierte Muhammad Ali. «O Gott, hätten Sie nur mein Angebot angenommen! Aber leider muss ich Ihnen sagen, dass es jetzt nicht mehr geht. Jetzt ist Ihr Antrag registriert, jetzt kann alles kontrolliert werden, jetzt würde Ihnen sogar der Pass nichts mehr nützen. Es ist aus, alles ist aus. Dabei wäre es so einfach gewesen, wenn Sie meinen Rat rechtzeitig befolgt hätten!»
    «Ich glaube», gab sie zurück, «ich glaube wirklich, dass Sie mich nicht zu bedauern brauchen.»
    Ihr letztes Lächeln, das er vom Platz vor dem Konsulat aus sah, ehe der Bus es mit einer Staubwolke verhüllte, war die glücklichste Sache, die er in seinem langen, wilden, harten, liebeleeren Leben jemals gesehen hatte.

Das kostenlose Radio
    Wir wussten alle, dass ihm nichts Gutes widerfahren würde, solange die Witwe des Diebes ihre Krallen in ihn geschlagen hatte, aber der Junge war naiv, ein echtes Eselskind, und solche Menschen kann man nicht belehren.
    Dabei hätte dieser Junge ein wirklich gutes Leben haben können! Gott hatte ihn mit einem göttlichen Aussehen gesegnet, und sein Vater hatte sich zwar für ihn aufgearbeitet, nicht aber ohne dem Jungen eine nagelneue, erstklassige Fahrradrikscha mit Plastiksitzen und allem anderen Komfort zu hinterlassen.
    Also: Er hatte dieses göttliche Aussehen, er hatte ein eigenes Unternehmen, und mit der Zeit hätte er auch eine gute Ehefrau bekommen, es wären nur ein paar Jahre nötig gewesen, um einige Rupien zu sparen; aber nein, er musste sich in die Witwe eines Diebes vergaffen, noch ehe ihm die Haare am Kinn zu sprießen begannen, noch ehe er die Milchzähne verloren hatte, könnte man fast sagen.
     
    Er tat uns leid, doch wer hört heutzutage schon auf die Weisheit des Alters?
    Wer, bitte, hört darauf?, frage ich Sie.
    Genau: kein Mensch, und schon gar nicht so ein Dickschädel wie Ramani, der Rikscha- wallah . Die Schuld aber trägt in
meinen Augen die Witwe. Ich habe nämlich mit angesehen, wie es passiert ist; das meiste habe ich mit angesehen, bis ich’s einfach nicht mehr aushalten konnte. Hier, unter diesem Banyanbaum, hab ich gesessen und dieselbe hookah geraucht, und dabei ist mir nicht viel entgangen.
    Einmal hab ich versucht, ihn vor dem Untergang zu bewahren, aber es hat nicht geklappt ...
    Die Witwe war in der Tat attraktiv, das ist nicht zu leugnen; auf eine harte, bösartige Weise war sie schon in Ordnung, doch ihre Mentalität, die war verdorben. Zehn Jahre älter als Ramani muss sie gewesen sein, dazu fünf lebende und zwei tote Kinder. Was dieser Dieb getan hat, außer Kindermachen und Stehlen, weiß Gott allein, aber er hat ihr nicht eine blanke paisa hinterlassen, also war sie natürlich an Ramani interessiert. Ich möchte nicht behaupten, dass Rikscha- wallahs in dieser Stadt viel Geld verdienen, aber zwei Mundvoll zu essen ist immer noch besser als Wind. Und wer verschwendet schon einen zweiten Blick auf die Witwe eines nichtsnutzigen Diebes.
    Genau hier haben sie sich kennengelernt.
    Eines Tages kam Ramani in die Stadt gefahren – ohne einen Fahrgast, aber strahlend wie immer, als hätte ihm jemand einen Zehner Trinkgeld gegeben. Er sang irgendeinen Ohrwurm aus dem Radio und hatte Brillantine im Haar wie zu einer Hochzeitsfeier. So dumm war er nicht, dass er nicht merkte, wie ihm die Mädchen ständig nachblickten und Bemerkungen über seine langen, muskulösen Beine machten.
    Die Witwe des Diebes hatte den bania-
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