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Osten, Westen

Osten, Westen

Titel: Osten, Westen
Autoren: Salman Rushdie
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Caravan, während er seinen Armbindenkumpels zuwinkte, die das Fahrzeug vor dem Volkszorn beschützten. Wie ich hörte – denn ich hatte die Szene verlassen, um mir diesen Schmerz zu ersparen –, hatte er eine Menge Pomade in den Haaren, und seine Kleidung war frisch gestärkt. Die Witwe des Diebes stieg nicht aus, sondern blieb in der Rikscha sitzen. Einen schwarzen Sari über den Kopf gezogen, umklammerte sie ihre Kinder, als wären sie ihr Rettungsanker.
    Nach kurzer Zeit hörte man einen Wortwechsel aus dem Caravan; dann wurden die Stimmen noch lauter, und schließlich gingen die jungen Männer mit den Armbinden hinein, um nachzusehen, was sich dort abspielte. Bald darauf wurde Ram von seinen Trinkkumpanen im Polizeigriff ins Freie befördert; die Brillantine war über sein ganzes Gesicht verschmiert,
und er blutete aus dem Mund. Auch die gewölbte Hand hatte er nicht mehr am Ohr.
    Und obwohl sie ihren Ehemann in den Staub stießen, rührte sich die schwarze Witwe des Diebes, wie man mir sagte, nicht von ihrem Platz in der Rikscha.
     
    O ja, ich weiß, ich bin ein alter Mann, meine Gedanken werden mit jedem Jahr faltiger, und wie man mir sagt, sind Sterilisation und Gott weiß was noch heutzutage dringend notwendig. Möglicherweise habe ich auch unrecht, der Witwe die Schuld zu geben – wer weiß? Möglicherweise kann man die Ansichten sämtlicher alter Menschen vergessen; wenn das so ist, dann soll es eben sein. Aber diese Geschichte erzähle nun mal ich, und ich bin noch nicht fertig damit.
    Einige Tage nach dem Zwischenfall im Caravan sah ich, wie Ramani dem alten Moslemgauner, dem die Fahrradreparaturwerkstatt gehörte, seine Rikscha verkaufte. Als er merkte, dass ich ihn beobachtete, kam er zu mir und sagte: «Leben Sie wohl, Lehrer Sahib! Ich gehe nach Bombay und werde ein noch größerer Filmstar als Shashi Kapoor und sogar Amitabh Bachchan.»
    «Ich gehe, sagst du?», fragte ich ihn. «Soll das heißen, dass du allein fährst?»
    Er warf sich in die Brust. Die Witwe des Diebes hatte ihm schon beigebracht, sich älteren Menschen gegenüber nicht mehr bescheiden zu verhalten.
    «Meine Frau und die Kinderwerden mitkommen», erklärte er. Das waren die letzten Worte, die wir miteinander wechselten. Am selben Tag noch reisten sie mit dem Südzug ab.
     
    Nachdem ein paar Monate vergangen waren, erhielt ich den ersten Brief von ihm – natürlich nicht eigenhändig geschrieben, denn trotz meiner weit zurückliegenden Bemühungen
hatte er kaum Schreiben gelernt. Er hatte einen professionellen Briefschreiber angeheuert, der ihn viele Rupien gekostet haben muss, weil alles im Leben Geld kostet, und in Bombay doppelt so viel wie anderswo. Fragen Sie nicht, warum er mir schrieb, er hat es getan. Ich habe die Briefe und kann sie Ihnen vorlegen, also sind alte Menschen hin und wieder doch zu etwas zu gebrauchen, aber vielleicht wusste er auch, dass ich der Einzige war, der sich für ihn interessierte.
    Wie dem auch sei: Die Briefe waren voller Berichte über seinen neuen Beruf; ich erfuhr, dass er sofort entdeckt worden war, dass ein großes Studio Probeaufnahmen gemacht hatte und ihn nunmehr zum Star trimmte, dass er seine Tage mit Spitzendarstellerinnen im «Sun-’n’-Sand-Hotel» am Juhu Beach verbrachte und eine Villa am Pali Hill kaufen wollte, in Hanglage und mit der modernsten Sicherheitsausrüstung, um ihn vor den Fans zu schützen, dass es der Witwe des Diebes gutging, dass sie glücklich war und dick wurde und dass sein Leben ausgefüllt war mit Licht, Erfolg und frei zugänglichem Alkohol.
     
    Es waren wundervolle Briefe, überbordend von Selbstsicherheit; doch jedes Mal, wenn ich sie lese – und zuweilen lese ich sie heute noch –, erinnere ich mich an seinen Gesichtsausdruck in der Zeit kurz vor dem Tag, an dem er die Wahrheit über sein Radio erfuhr, und an die ungeheure, ja fast wahnsinnige Kraft, die er dafür aufgewandt hatte, die Realität herbeizuzaubern  – durch einen Akt übermenschlichen Glaubens, einfach so aus der Luft zwischen der gewölbten Hand und dem Ohr.

Das Haar des Propheten
    Anfang des Jahres 19.., als Srinagar im Bann eines so harten Winters lag, dass Menschenknochen so leicht zu Bruch gingen, als wären sie aus Glas, konnte man einen jungen Mann, auf dessen kältegeröteter Haut wie ein Frosthauch der unverwechselbare Schimmer des Reichtums lag, den elendigsten und verrufensten Teil der Stadt betreten sehen – jenes Viertel, in dem die armseligen Hütten aus Holz
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