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Osten, Westen

Osten, Westen

Titel: Osten, Westen
Autoren: Salman Rushdie
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zuwinkte, aus der die Finsternis quoll wie dicker Rauch. Mit geballten
Fäusten befahl Huma ihrem Herzen zornig, sich normal zu verhalten, und folgte der Alten in das von Dunkelheit erfüllte Haus.
     
    Ein feiner Strahl Kerzenlicht sickerte durch die Finsternis, so schwach, wie man ihn sich kaum vorstellen kann; als Huma diesem dünnen, gelblichen Faden folgte (die alte Frau konnte sie nicht mehr sehen), spürte sie plötzlich einen scharfen Schlag gegen die Schienbeine und schrie unwillkürlich auf. Sofort biss sie sich jedoch fest auf die Lippe, verärgert, weil sie demjenigen, der oder das sie hier im Dunkeln versteckt erwartete, ihre wachsende Angst verraten hatte.
    In Wirklichkeit war sie gegen einen niedrigen Tisch gestoßen, auf dem eine einzige Kerze brannte und hinter dem eine Gestalt auszumachen war, die wie ein gigantisches Gebirge mit gekreuzten Beinen auf dem Fußboden hockte.
    «Hinsetzen, hinsetzen!», sagte eine ruhige, tiefe Männerstimme; und dieser kurze und bündige Befehl bewirkte, dass die Beine unter ihr nachgaben, ohne noch einer blumigeren Einladung zu bedürfen.
    Die linke Hand mit der rechten umklammernd, zwang sie sich, gelassen zu erwidern: «Und Sie, Herr, sind Sie der Dieb, nach dem ich gefragt habe?»
     
    Seinen schweren Körper ein wenig zurechtsetzend, klärte der Schattenberg Huma darüber auf, dass in dieser Gegend sämtliche kriminellen Aktivitäten straff durchorganisiert seien und so streng überwacht, dass sämtliche Gesuche um das, was man als freiberufliche Arbeit bezeichnen könne, über dieses Gelass laufen müssten.
    Er verlangte detaillierte Informationen über das gewünschte Verbrechen, darunter eine präzise Auflistung der zu beschaffenden Gegenstände, exakte Angaben über die finanzielle
Entlohnung mitsamt allen Gratifikationen sowie – nur für die Unterlagen bestimmt – eine kurze Zusammenfassung der Beweggründe für das Gesuch.
    Bei dieser letzten Forderung gab Huma – als müsste sie an etwas Bestimmtes denken – ihrem Körper wie auch ihrem Willen einen Ruck und antwortete heftig, die Beweggründe gingen ausschließlich sie selbst etwas an; Einzelheiten werde sie nur mit dem Einbrecher persönlich besprechen; doch die Entlohnung, die sie in Aussicht stelle, könne guten Gewissens als «großzügig» bezeichnet werden.
    «Da ich mich in den Räumen einer Art Arbeitsvermittlung zu befinden scheine, möchte ich Ihnen, mein Herr, lediglich mitteilen, dass ich für eine so großzügige Entlohnung den verwegensten Verbrecher brauche, den es gibt, einen Mann, der im Leben vor nichts mehr zurückschreckt, nicht einmal aus Gottesfurcht. Den allerschlimmsten, sage ich Ihnen – mit weniger gebe ich mich nicht zufrieden!»
     
    Nun wurde eine ölbetriebene Sturmlaterne entzündet, und Huma sah sich einem grauhaarigen Riesen gegenüber, auf dessen linker Wange eine höchst unheimliche Narbe prangte, ein gezacktes Wundmal in Gestalt des Zeichens sín in der Neschi-Schrift. Auf einmal wurde sie von dem unendlich wehmütigen Gefühl ergriffen, der schwarze Mann aus ihrer Kinderstube sei auferstanden, um ihr Angst einzujagen, denn ihre ayah hatte drohenden Ungehorsam stets damit zu verhindern gewusst, dass sie Huma und Atta warnte: «Wenn ihr nicht artig seid, werd ich ihn holen, damit er euch in den Sack steckt und mitnimmt – den Scheich Sín, den König der Diebe!»
    Hier nun saß grauhaarig, aber eindeutig mit einer Narbe gezeichnet, der berüchtigte Verbrecher persönlich – und Huma verlor fast den Verstand. Hatten die Ohren sie getrogen,
oder hatte er tatsächlich soeben verkündet, dass unter den gegebenen Umständen ausschließlich er selbst für diese Aufgabe in Frage komme?
     
    Heftig gegen die neugeborenen Kobolde der Erinnerung ankämpfend, erklärte Huma dem angsteinflößenden Freiwilligen, dass nur ein Anliegen von äußerster Dringlichkeit und Bedrohlichkeit sie dazu veranlassen konnte, sich ohne Begleitung in diese gefährliche Gegend zu wagen.
    «Da wir uns einen Rückzieher in letzter Minute nicht leisten können», fuhr sie fort, «habe ich beschlossen, Ihnen alles zu sagen und keinerlei Geheimnisse zurückzuhalten. Wenn Sie, nachdem Sie alles gehört haben, noch immer bereit sind, für uns zu arbeiten, werden wir alles in unserer Macht Stehende tun, um Ihnen zu helfen und Sie zu einem reichen Mann zu machen.»
    Der alte Dieb hob die Schultern, nickte, spie aus. Und Huma begann mit ihrer Geschichte.
     
    Sechs Tage zuvor war im Haus ihres
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