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Osten, Westen

Osten, Westen

Titel: Osten, Westen
Autoren: Salman Rushdie
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Vaters, des reichen Geldverleihers Hashim, alles noch so gewesen wie immer. Beim Frühstück hatte ihre Mutter den Teller des Geldverleihers liebevoll mit khichri gefüllt, und die Gespräche standen im Zeichen all jener Formeln der Höflichkeit und Fürsorge, auf die die ganze Familie so stolz war.
    Hashim wies mit Vorliebe darauf hin, dass er zwar kein frommer Mann sei, aber größten Wert darauf lege, «auf dieser Welt ein ehrenwertes Leben zu führen». In seiner weitläufigen Villa am Seeufer wurden alle Fremden mit dem gleichen Zeremoniell und mit dem gleichen Respekt empfangen, auch jene Unglücklichen, die kamen, um wegen winziger Bruchteile von Hashims riesigem Vermögen zu verhandeln, und von denen er natürlich einen Zinssatz von über
siebzig Prozent verlangte, nicht zuletzt, wie er seiner khichri löffelnden Ehefrau erklärte, «um diesen Menschen den Wert des Geldes nahezubringen; wenn sie diese Lektion gelernt haben, werden sie endgültig vom Fieber des ewigen Schuldenmachens geheilt sein. Gelingt der Plan, werde ich mich, wie du siehst, sogar eigenhändig um meine Verdienstquelle bringen!»
    Ihren Kindern Atta und Huma hatten der Geldverleiher und seine Frau erfolgreich die Tugenden der Sparsamkeit und des ehrlichen Handelns anerzogen sowie einen gesunden Unabhängigkeitswillen. Zu diesem Werk pflegte sich Hashim nur allzu gern selbst zu beglückwünschen.
     
    Das Frühstück endete; die Familienmitglieder wünschten einander einen erfolgreichen Tag. Innerhalb weniger Stunden jedoch sollte die gläserne Zufriedenheit dieses Hauses, dieses Lebens von porzellanzarter Delikatesse und alabasterner Empfindsamkeit so gründlich zertrümmert werden, dass es keine Hoffnung auf irgendeine Wiederherstellung gab.
     
    Der Geldverleiher ließ seine persönliche shikara kommen und wollte gerade einsteigen, als er ein silbriges Aufblitzen wahrnahm und zwischen dem Boot und seinem Privatsteg eine kleine Phiole treiben sah. Spontan fischte er sie aus dem trägen Wasser.
    Es war ein farbiger Glaszylinder, der in einer kunstvoll gearbeiteten Silberhülse steckte, und hinter dem gewölbten Glas sah Hashim einen silbernen Anhänger mit einem einzelnen menschlichen Haar.
    Fest schloss er die Faust um seinen kostbaren Fund, erklärte dem Bootsmann murmelnd, er habe es sich anders überlegt, und eilte in sein Privatgemach, wo er sich hinter geschlossenen Türen am Anblick dieses einzigartigen Gegenstands
weidete. Es besteht kein Zweifel, Hashim, der Geldverleiher, wusste vom ersten Augenblick an, dass er sich im Besitz der berühmten Reliquie des Propheten Mohammed befand, seines angebeteten heiligen Haares, das am Tag zuvor aus seinem Schrein in der Moschee von Hazratbal gestohlen worden war und damit ein nie dagewesenes Gezeter und Wehklagen im ganzen Tal ausgelöst hatte.
    Die Diebe – zweifellos verängstigt durch das Pandämonium, das sie ausgelöst hatten, durch die endlose Prozession kreischender Klageschlangen in den Straßen der Stadt, durch den Aufruhr, die politischenAuswirkungen und den massiven Polizeieinsatz bei der Suche, geleitet und durchgeführt von Männern, deren gesamte Karriere auf einmal davon abhing, ob sie dieses verlorene Haar fanden oder nicht – waren offenbar in Panik geraten und hatten die Phiole ins träge Wasser der Seebucht geworfen.
    Nachdem er die Reliquie dank einer überaus glücklichen Fügung gefunden hatte, stand fest, was Hashims Pflicht nun war: Das Haar musste in seinen Schrein zurückgebracht werden, damit im Land wieder Gleichmut und Frieden einzogen.
     
    Aber der Geldverleiher hegte andere Absichten. Alles, was ihn in seinem Studierzimmer umgab, war Ausdruck seiner Sammelwut. Da gab es riesige Vitrinen mit aufgespießten Schmetterlingen aus Gulmarg, drei Dutzend maßstabgerechte Modelle der legendären Kanone Zamzama in allen möglichen Legierungen, zahllose Säbel, einen Naga-Speer, vierundneunzig Terrakotta-Kamele, wie sie auf den Perrons der Eisenbahn feilgeboten werden, viele Samoware und einen ganzen Zoo von winzigen, aus Sandelholz geschnitzten Tieren, die ursprünglich als Badewannenspielzeug für Kinder gedacht waren.
    Wenn man recht bedenkt, sagte sich Hashim, muss dem
Propheten dieser Reliquienkult doch außerordentlich missfallen. Er hat die Vorstellung, vergöttlicht zu werden, immer gehasst. Indem ich seinen fehlgeleiteten Anbetern nun dieses Haar vorenthalte, leiste ich ihm – oder etwa nicht? – einen weit besseren Dienst, als wenn ich es zurückgeben
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