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0949 - Die geronnene Zeit

0949 - Die geronnene Zeit

Titel: 0949 - Die geronnene Zeit
Autoren: Oliver Fröhlich
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Erst gestern hat mir eine alte Frau eine Ohrfeige verpasst und mich angeschrien, ich hätte ihre Kinder auf dem Gewissen.«
    Elada schwieg.
    »Und soll ich dir etwas sagen? Ich kann verstehen, dass sie mich ansehen wie einen Haufen Pferdedung. Nach den Jahrtausenden der Gewalt würde ich es nicht anders machen.«
    »Gibt nichts auf das, was die Leute reden. Das Gericht der Sieben Räte hat dich freigesprochen!« Ein Jahr nach Kesriels Geburt hatte der neu eingesetzte oberste Rat ein Verfahren einberufen, in dem der Erbfolger des millionenfachen Mordes angeklagt worden war. Die Sieben hatten schließlich festgestellt, dass man Kesriel nicht für die Taten seiner Vorväter verantwortlich machen könne. Zwar bestand keine Gewissheit, dass der dämonische Teil der Seele vollständig herausgewaschen war, es bestand aber auch keine Gewissheit, dass es nicht der Fall war. Nach Eladas Erzählungen hatte Merlin die Urteilsfindung etwas beeinflusst. Nicht mit Magie, sondern mit Argumentation.
    »Der Erbfolger hat großes Unheil über Lemuria gebracht«, lauteten seine Worte. »Doch wenn ihr nun über ihn richtet, seid ihr nicht besser als er. Euer Urteil würde euren Rachegelüsten entspringen, nicht dem Wunsch nach Gerechtigkeit. Und bedenkt stets: So, wie er bisher ein Werkzeug des Bösen war, kann er nun für das Gute einstehen. Wollt ihr ihm diese Möglichkeit nehmen? Ihr habt es in der Hand. Ihr könnt ihn zum Tode verurteilen und die Erbfolge beenden. Oder ihr sprecht ihn frei und verleiht ihm so das ewige Leben. Ich sage: Ermöglicht ihm, die Reihe fortzusetzen. Ermöglicht ihm, mit jeder Inkarnation ein Jahr älter zu werden. Ermöglicht ihm, diese Zeit für den Dienst am Guten zu nutzen.«
    Das Gericht der Sieben Räte hatte auf Merlin gehört. Die Reaktionen der Bevölkerung reichten von entsetztem Protest über Gleichgültigkeit bis hin zu Verständnis. Und auch, wenn Kesriel vor den Augen des Gesetzes nun ein unschuldiger Junge war, sahen die Augen so manchen Lemurers ihn noch immer als mörderisches Scheusal.
    »Wenn genügend Zeit ins Land geht«, fuhr Elada fort, »wird sich das Misstrauen legen. Dann wirst du einer von ihnen sein.«
    Kesriel lachte auf. »Nein, das werde ich nie!« Er drehte sich zum Fenster und deutete mit einer Kopfbewegung hinaus. »Wer von ihnen wird denn über hundertsiebzig Jahre alt, nur um in seinem Sohn wiedergeboren zu werden? Ich werde jeden Einzelnen von denen da unten überleben! Sie und ihre Kinder. Vielleicht selbst ihre Enkel. Das werden die Menschen nicht vergessen. Und deshalb werde ich nie einer von ihnen sein. Sobald etwas Schreckliches geschieht - ein Erdbeben, heftige Regenfälle, Trockenheit, irgendetwas -, werden sie es mir anlasten. Sie werden mit dem Finger auf mich zeigen und sagen: Da geht der Erbfolger. Er ist schuld an allem, was wir je erleiden mussten. Sie lasten mir ja sogar dieses sonderbare Phänomen draußen im Shevnaron-Gebirge an!«
    »Das darfst du ihnen nicht verübeln. Schließlich hat man es kurz nach deiner Geburt entdeckt.«
    Der Junge ließ sich auf einen Holzstuhl sinken. »Ich nehme es ihnen nicht übel. Wer weiß, vielleicht haben sie recht!«
    Er überlegte, ob er seiner Mutter von seiner inneren Unruhe erzählen sollte. Oder davon, dass sie mit diesem komischen Ding im Shevnaron-Gebirge in Verbindung zu stehen schien.
    »Aber es sind weniger die Leute, die mich kümmern«, sagte er stattdessen. »Es ist meine Magie. Wie du sagst: Sie erwacht. Was, wenn mit ihr meine Bosheit zurückkehrt?«
    Er dachte an die Mordanschläge, die er im Laufe der letzten Jahre überlebt hatte. Sechs an der Zahl! Vier davon hatten Lemurer verübt, die ihn für all das strafen wollten, was seine Vorgänger angerichtet hatten. Die anderen beiden jedoch hatten vor, ihn aus dem Weg zu räumen, weil sie nicht glaubten, dass die Reinigung der Erbfolge von Dauer war. Als halte eine fremde Macht ihre schützende Hand über ihn, hatte er alle Mordversuche unbeschadet überstanden - was den Skeptikern und Erbfolgerhassern nur recht zu geben schien.
    Kesriel verstand auch sie. Konnte er ihnen Gedanken verübeln, die ihn selbst quälten? Nein, sicher nicht.
    Vor Gericht hatte er sich dafür eingesetzt, Milde mit den Attentätern walten zu lassen. Er wollte nicht, dass seinetwegen noch mehr Menschen leiden, sterben oder auch nur ins Gefängnis mussten. Die Bevölkerung legte ihm dieses Verhalten jedoch als den Versuch aus, Friedfertigkeit und Vergebungsbereitschaft zu heucheln,
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