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0927 - Nacht über GALAHAD

0927 - Nacht über GALAHAD

Titel: 0927 - Nacht über GALAHAD
Autoren: Simon Borner
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Grauens
    Invergordon
    Die Nacht, in dem Ellen Glenister starb, begann mit einer Katastrophe, endete nur kurz darauf mit einer zweiten, und doch war sie nur der Anfang einer wahren Kette von Ereignissen.
    Wasser schwappte mit jedem Schritt, umspülte die Sohlen ihrer Stiefel. Das Licht der Scheinwerfer, die draußen auf den Einsatzfahrzeugen montiert waren, fiel aufs Deck und durch die wenigen Fenster auch in den Bauch des kleinen Kutters, in dem Ellen gerade verbissen darum kämpfte, ihr Frühstück im Magen behalten zu dürfen. Der Anblick, der sich ihr bot, tat sein Möglichstes, ihr diese Gnade nicht zu gewähren.
    Drei Männer in der typischen Seemannsmontur aus Ölzeug und grober Schurwolle, die die hiesigen Fischer meist trugen, lagen flach auf dem Boden des Unterdecks, regungslos. Ihre Gliedmaßen waren ins Absurdeste verdreht und standen in Winkeln ab, die schon allein beim Betrachten Schmerzen verursachten. Doch das war nicht das Schlimmste.
    »Was in Gottes Namen…«, murmelte Evan Donovan und rieb sich den kahlen Schädel. Seine Stimme klang nahezu tonlos, und wäre Ellen nicht so sehr mit ihrer Selbstbeherrschung beschäftigt gewesen, hätte sie davon mehr als nur beiläufige Notiz genommen. Schließlich gehörte schon viel dazu, dem stadtbekannten Großmaul Donovan die Sprache zu rauben.
    Das Funkgerät an seiner Hüfte rauschte. »Daniels hier. Was habt ihr, Leute? Die Sanitäter fragen, ob noch irgendwo Verletzte aufgetaucht sind.«
    Evan schluckte hörbar. »Das würd ich so nicht sagen…« Dann drehte er sich plötzlich zur Seite und übergab sich. Platschend fiel sein Mageninhalt auf den nassen Boden.
    »Negativ«, sagte Ellen an seiner Stelle in das Gerät, das sie sich von seinem Gürtel schnallte, während er sich übergab. »Wir haben zwar noch Personen gefunden, aber denen kann kein Arzt der Welt mehr helfen.«
    Die Körper der Männer waren… ja, was? Verflüssigt? Geschmolzen? Wie formulierte man, was man selbst nicht einmal verstehen konnte? Vor ihr und ihrem Kollegen lagen drei Pfützen aus dickflüssiger Masse, die einmal menschliche Form gehabt haben mochten. Schaufensterpuppen aus Götterspeise. Ellen sah Haare, Brauen, Zähne - all das auf und in einem feucht glänzenden, gallertartigen Etwas mit Kleidung. Das hereinströmende Wasser des Firths glitt an den abscheulichen Überresten menschlichen Lebens entlang, als wolle es sie auflösen.
    Das Bild war gleichzeitig faszinierend und über die Maßen abstoßend - aber hätte sie ihrem Vorgesetzten das mitteilen können, ohne den Anblick mit Worten zu banalisieren? Insgeheim dankte sie Gott dafür, dass die Stromversorgung des Fischkutters nicht mehr existierte. Sie sah auch so schon mehr, als sie verkraften konnte. Wenn es nach ihr ging, durfte der Raum den Rest seiner Geheimnisse gerne für sich behalten.
    »Details, Glenister« , drang Daniels' sonorer Bass aus dem Lautsprecher. »Was haben Sie?«
    Gute Frage… Was um Himmels willen ist hier nur passiert? Langsam schüttelte sie den Kopf. »Ich glaube, das sehen Sie sich besser selbst an, Sir. Und bringen Sie Greggs als Fotografen mit.«
    Daniels seufzte. »Wissen Sie, wovon ich nachts träume? Von Untergebenen, die mir zur Abwechslung - nur zur Abwechslung, ich will ja nicht gierig erscheinen - auch mal eine klare Antwort auf eine klare Frage geben. Aber okay, ich komme gleich rüber. Greggs macht gerade noch Aufnahmen vom Pier, gegen den der Kutter gerammt ist. Sobald sie fertig ist, bringe ich sie mit.«
    »Verstanden, Sir.« Ein weiteres Rauschen, das Gespräch war beendet.
    Ellen steckte das Handfunkgerät zurück an Donovans Gürtel und zog ihre kleine Stablampe aus der Jackentasche. Ihre Finger zitterten so sehr, dass sie das Gerät fallen ließ.
    Evan stöhnte leise und richtete sich auf. Sein Gesicht wirkte wie grün angelaufen. »Ich bin mal kurz…«, sagte er und deutete nach oben.
    »Frische Luft, alles klar.« Sie nickte verständnisvoll. »Ich schau mich nur noch ein wenig um, dann komme ich nach.«
    Die Hände auf den fülligen Bauch gepresst, eilte er zum Ausgang. Die Tür war kaum hinter ihm ins Schloss gefallen, da drangen schon wieder die vertrauten Würgelaute an Ellens Ohr. Lächelnd ging die Polizistin in die Hocke und hob ihre Lampe auf. Mit geübtem Handgriff schaltete sie sie ein, danach richtete sie sich auf.
    »Okay«, murmelte sie und bemühte sich, die so seltsam zugerichteten Leichen ebenso zu ignorieren wie Evans mitleiderregende Geräuschkulisse.
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