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0709 - Märchenfluch

0709 - Märchenfluch

Titel: 0709 - Märchenfluch
Autoren: Timothy Stahl
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Schatten abzeichneten, wenn drinnen jemand vor die Scheibe trat.
    Die Schreie brachen ab, während die beiden Männer durchs Städtchen trabten, wurden wieder laut, verstummten abermals.
    In der Nähe des Flüsschens nahm der Nebel an Dichte zu. Das Rauschen und Glucksen des Wassers klang nur gedämpft durch die wattige Decke.
    Noch einmal kreischte das Mädchen auf, gellend laut, schmerzhaft schrill. Dann - nicht mehr.
    »Das war drüben am anderen Ufer«, meinte Billings, der mit schief gelegtem Kopf angespannt gelauscht hatte, die Zigarre nach wie vor im Mundwinkel.
    »Bei der alten Kirche?«, vergewisserte sich Osway.
    Die meisten Häuser auf der anderen Seite des Baches standen leer. Der Ort war in die entgegengesetzte Richtung gewachsen, auf den Highway 2 zu, obwohl der immer noch etliche Meilen entfernt lag. Auch die alte Kirche wurde seit Jahrzehnten nicht mehr genutzt. Wem sonntags der Sinn nach Gottes Wort stand, der fuhr hinauf nach Rumford.
    »Ja.« Billings nickte. »Glaube ich jedenfalls. Lass uns…«
    Osway bedeutete ihm mit einer Geste, still zu sein. Jetzt horchte auch er in den Nebel, sekundenlang. »Hörst du das auch?«, flüsterte er dann.
    »Ja… Was ist das?«
    »Keine Ahnung«, erwiderte Osway mit trockenem Mund. Und ich glaube, ich will's auch gar nicht wissen…!, fügte er in Gedanken still hinzu.
    Am anderen Ufer des Fly Creek rumorte es.
    Sie vernahmen etwas, das wie ein kehliges Knurren klang, ein dumpfes Grollen, dazu schnaubendes Atmen und unangenehm feuchte Geräusche. Und hinter dem Nebelgrau war schattenhafte Bewegung. Aber das mochte eine Täuschung sein, denn die träge wogenden Dunstschleier gaukelten überall Bewegung vor.
    »Komm!«, sagte Billings knapp und stapfte weiter auf den Bach zu. Der immer noch regennasse Boden saugte schmatzend an seinen Schuhen.
    Es gab eine Brücke über den Creek, ein Stück stromabwärts nahe der alten Mühle, aber Billings schien der Ansicht zu sein, dass sie keine Sekunde mehr verlieren durften.
    An der tiefsten Stelle reichte ihnen das Wasser bis zur Hüfte, allerdings nur infolge des Dauerregens. Normalerweise war der Fly Creek allenfalls knietief. Sie wateten die sechs, sieben Meter durchs Wasser und den Nebel, der den modrigen Geruch der alten Häuser zu ihnen herüber trug.
    Am anderen Ufer angelangt, wuchsen die leer stehenden Gebäude vor ihnen auf wie Riffe aus der trägen Brandung eines grauen Ozeans. Ein gutes Stück dahinter ragten spitze Klippen aus schwarzem Fels in die Höhe, an denen sich Wogen mit hohlem Rauschen brachen. Diesen Eindruck erweckte der dort beginnende Wald zumindest jetzt, bei Nacht und Nebel.
    Osway und Billings standen noch bis zum Hals im Dunst. Für einen zufälligen Beobachter musste es aussehen, als würden ihre Köpfe körperlos auf diesem Nebelmeer schwimmen. Aber so einen Beobachter gab es nicht.
    Oder doch…?
    Die Geräusche, die sie im Bach wegen des rauschenden Wassers nicht mehr gehört hatten, waren verstummt. Um sie herum schwieg die Nacht jetzt wie das sprichwörtliche Grab.
    Dennoch hatten sie nicht das Gefühl, allein zu sein. Osway spürte es und Billings' Gesicht sah er an, dass es ihm um keinen Deut anders erging. Sie fühlten sich angestarrt, vielleicht aus einem der verlassenen Häuser heraus, deren größtenteils zerbrochene Fenster wie schwarze Augenhöhlen riesenhafter Totenschädel blicklos über den Nebel glotzten.
    Trotz des unguten Gefühls drängte Billings zum Weitergehen. Er hielt Kurs auf die alte Kirche, die wie ein aufgegebener Leuchtturm aus den Nebelwogen aufstach. Die Farbe war längst abgeblättert, das Holz rissig und grau.
    Die Nerven zum Zerreißen gespannt, ließen die beiden Männer ihre Blicke unablässig umherwandern.
    »Du gehst links 'rum, ich rechts«, bestimmte Billings, als sie die Kirche schließlich unangefochten erreicht hatten.
    In dem wuchtigen alten Bau waren dereinst nicht nur Gottesdienste abgehalten worden, die Reverends und ihre Familien hatten darin auch gelebt. Zweigeschossige Wohntrakte flankierten den Turm. Insgesamt wirkte die Kirche eigentlich vielmehr wie ein, wenn auch sehr schlichtes, Herrenhaus.
    »Wir sollten uns lieber nicht trennen.« Osway war wenig angetan von der Aussicht, allein um das alte Gebäude herumstiefeln zu müssen.
    »Wir bleiben doch in Rufweite zueinander, also mach dir keine Sorgen. Wenn wir miteinander eine Runde um die Kirche drehen, scheuchen wir den Kerl womöglich bloß vor uns her. So aber können wir ihn in die
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