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0709 - Märchenfluch

0709 - Märchenfluch

Titel: 0709 - Märchenfluch
Autoren: Timothy Stahl
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können, was ihm auffiel.
    Aber er tat es nicht, weil es ihm selbst fast albern vorkam.
    Es konnte doch nicht sein, dass er sich - wie seine Augen ihm weismachen wollten - nicht mehr in Fly Creek befand!
    Das Örtchen, in dem er von Geburt an daheim war, schien sich auf unbegreifliche Weise aufzulösen. Jenseits des dünnen Nebels, der seinen Blick wie eine leicht beschlagene Scheibe trübte, meinte Billings Häuser zu sehen, die weder dorthin noch an irgendeine andere Stelle der kleinen Stadt gehörten. Die eigentlichen Gebäude jedoch waren nicht vollends verschwunden. Die Eindrücke überlagerten einander wie Bilder auf einem doppelt belichteten Film, und dabei schien keines von beiden wirklich echt zu sein.
    Und die Straße - auch sie kam Lester Billings anders vor. In diesem Fall konnte Billings seinen Eindruck nicht einmal im Stillen beschreiben. Er wüsste nicht, ob der kleine Bogen, den die Straße beschrieb, plötzlich stärker gekrümmt schien, oder ob sich ihr leichtes Gefälle verändert hatte - und wenn ja, ob sich die Neigung gesenkt oder eher verstärkt hatte.
    Selbst die Luft war anders, roch anders. Schnuppernd wie ein Hund sog Billings sie ein, um den sonderbaren Geruch, den er darin wahrnahm, zu ergründen. Eine merkwürdige Mixtur… Der Duft von- Zimt, und noch etwas anderem.
    Gefangen in diesen abwegigen Sinneseindrücken, musste er seine Gedanken doch laut ausgesprochen haben, denn wie von weit her hörte er Chip Osway hart auflachen und sagen: »Meine Fresse, was redest du denn da? Du hast doch auch nicht mehr getrunken als ich, oder? Wie also…«
    »Was…?« Billings fuhr kaum merklich zusammen, blinzelte, als sei er unversehens aus einem Halbschlaf gerissen worden.
    Mit einem fast spürbaren Ruck rastete die Wirklichkeit wieder ein. Plötzlich sah er alles um sich her wieder so, wie es immer gewesen war. Wie es sein musste. Das Trugbild, die Sinnestäuschung, und nichts anderes konnte es gewesen sein, verging.
    Nur tief in ihm hielt sich noch ein letzter Rest dieses seltsamen Gefühls. Doch auch das schwand, noch in diesem Augenblick, als Billings abermals zusammenzuckte wie unter der Berührung einer totenkalten Hand.
    Schreie gellten durch die Nacht!
    Die Schreie eines Mädchens, das nicht einfach nur um Hilfe rief, sondern sich in Todesangst schier die Seele aus dem Leib kreischte!
    Und diese markerschütternden Schreie, das wusste Billings im selben Moment, entsprangen ganz gewiss nicht seiner Einbildung.
    Denn Chip Osway, mit einemmal käsebleich um die Nase und stocksteif wie schockgefrostet, hörte sie ebenfalls!
    »Jesus!«, entfuhr es Osway. Dann stockte er - weil die Schreie abbrachen.
    Die plötzliche Stille war auf sonderbare Weise kaum weniger entsetzlich als eben noch die schrillen Schreie. Sie wirkte seltsam lähmend, körperlich zumindest. Für den Geist indes war diese Stille reinste Stimulanz! Sowohl in Osways als auch in Billings Kopf reihten sich grässliche Fiktionen aneinander, Bilder eines unbekannten Mädchens, das in Todesangst brüllte und dann auf einmal verstummte. Ihre Fantasie ersann binnen weniger Sekunden Dutzende von Gründen, einer schrecklicher als der andere!
    Und so waren sie beide beinahe erleichtert, als die unheimliche Totenstille unter neuerlichem, noch viel schlimmerem Geschrei zerrissen wurde!
    Was es auch sein mochte, das dieses Mädchen derart in Angst und Schrecken versetzte, Chip Osway und sein Freund Lester Billings fühlten diese Panik ebenfalls, als rolle sie wie eine unsichtbare Woge durch die Nacht, um sie zu packen und mitzureißen.
    Ein eisiges Kribbeln hatte sich zwischen Osways Schulterblättern festgesetzt und ließ ihn unentwegt schaudern. Das Zittern wollte sogar auf seine Kiefer übergreifen und ihn mit den Zähnen klappern lassen. Mühsam unterdrückte er den Drang, presste die Lippen so fest aufeinander, dass es wehtat.
    »Wir…«, setzte Billings an, über den Schreien kaum zu verstehen, »Wir können doch nicht einfach nur hier herumstehen!«
    »Wo kommen die Schreie her?«, fragte Osway stockend. Ihm schien es, als entständen sie überall um sie her. Vielleicht lag es nur am Nebel, vielleicht aber auch an seiner Aufregung, die ihm das Blut in den Ohren wie Sturzbäche rauschen ließ.
    »Von da unten!« Billings zeigte in Richtung des Fly Creek. Dann lief er auch schon los.
    Osway setzte sich ebenfalls in Bewegung, schloss zu Billings auf. Hinter ein paar Fenstern ging Licht an, verschwommene Flecken, in denen sich formlose
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