Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
0709 - Märchenfluch

0709 - Märchenfluch

Titel: 0709 - Märchenfluch
Autoren: Timothy Stahl
Vom Netzwerk:
Zange nehmen.«
    »Was denn für einen Kerl?«, fragte Osway verdutzt.
    »Na, den, der… Ach, was weiß ich, verdammich! Irgendwer muss diesem Mädchen doch was getan haben, oder?«
    »Vielleicht war's ja nur ein Tier«, entgegnete Osway. Jetzt, da sowohl die Schreie als auch die anderen unheimlichen Geräusche nicht mehr zu hören war, fiel es ihm auf einmal erstaunlich leicht, mit harmlosen Erklärungen aufzuwarten und sich damit zu begnügen.
    »Vielleicht war's ja auch nur ein Tier, das da geschrien hat«, wiederholte er. »Ein Ziegenmelker womöglich. Diese Vögel haben mit ihrem Geschrei schon so manchen fast zu Tode erschreckt. Oder eine Katze. Ich hab mal 'ne Katze schreien hören und hätte jeden Eid drauf geschworen, dass es ein kleines Kind war.«
    »Scheiße!«, grunzte Billings und spuckte aus, »Vögeln oder Katzen, die so schreien, möchte ich lieber nicht begegnen - jedenfalls nicht ohne meine Flinte unterm Arm.« Er wandte sich nach rechts. »Wir treffen uns hinter der Kirche. Wenn irgendwas ist ruf mich, okay?«
    Osway murmelte eine halbherzige Zustimmung und ging nach links, bog um die Ecke und bewegte sich dicht am Gebäude entlang weiter über schlammigen Boden. Gestern hatte hier noch ›Land unter‹ geherrscht. Das Oberflächenwasser war inzwischen größtenteils abgeflossen, aber in den Kellern der ufernahen Häuser, so sie unterkellert waren, stand es bestimmt immer noch. Der allgegenwärtige Fäulnisgeruch sprach Bände.
    Osway hatte die hintere linke Ecke der Kirche fast erreicht und nichts Verdächtiges gesehen oder gehört. Auch Billings schien nicht fündig zu werden, andernfalls hätte er ihn mit einem Ruf verständigt. Osway merkte, wie die Anspannung allmählich von ihm abfiel. Ein angenehmes Gefühl…
    Umso härter, mit der Wucht eines gigantischen Schmiedehammers, traf ihn das Entsetzen, als er buchstäblich über die Leiche stolperte!
    An der Gebäudewand fing er sich ab und verhinderte mit Müh und Not einen Sturz.
    Dann sah er auf die Tote hinab.
    Ein Mädchen. Siebzehn vielleicht, auf keinen Fall viel älter. Und triefnass.
    Der Leichnam war grauenhaft zugerichtet. Klaffende Wunden, die zerfetztes Fleisch bloßlegten. Und Blut, ungeheuer viel Blut.
    Trotzdem war das Mädchen selbst nach diesem grässlichen Tod noch schön. Das Gesicht war im wahrsten Sinne des Wortes bildschön, wie von einem Künstler gemalt. Die Brüste, von dem zerrissenen Wams und der Bluse darunter kaum noch verhüllt, schienen perfekt, wie von einem Bildhauer geformt.
    Lieber Gott im Himmel! durchfuhr es Osway. Was denk ich denn da…?! Fast empfand er in diesem Moment ob seiner Gedanken mehr Ekel vor sich selbst als vor dem furchtbaren Anblick zu seinen Füßen. Obwohl kein über Gebühr gläubiger Mensch, schlug er hastig ein Kreuzzeichen.
    Das tote Mädchen stammte nicht aus Fly Creek. Dessen war sich Osway ganz sicher.
    Jeder kannte hier jeden. Er hatte die Kleine aber auch anderswo bestimmt noch nicht gesehen. Schön wie sie war, wäre sie ihm überall aufgefallen und für immer in Erinnerung geblieben.
    Wieder rief er sich innerlich zur Ordnung, als er ungewollt ins Schwelgen zu geraten drohte.
    Die Kleidung der Toten fiel ihm noch auf. Nicht nur, dass sie zu einem Mädchen dieses Alters nicht passte, nein - sie passte nicht einmal in diese Zeit. Ein samtenes Cape mit Kapuze, wie die Tote es anhatte, trug seit Jahrzehnten oder noch viel länger kein Mensch mehr. Gleiches galt auch für ihr mit Blümchen besticktes Wams.
    Abermals blieb sein Blick auf ihren nackten Brüsten ruhen. Die blutigen Sprenkel auf den sanften Wölbungen harmonierten mit der Farbe ihres Kapuzenumhangs.
    Und trotz all des Blutes ging von der Toten ein angenehmer Duft aus. Osway nahm vagen Zimtgeruch wahr, in den sich noch eine andere Komponente mischte, etwas Exotisches, seltsam Anregendes, das er nicht benennen konnte.
    Dann verflog dieser Duft. Zigarrengeruch verdrängte ihn. Osway hörte Schritte, die näher kamen und schließlich verklangen.
    »Sieh dir das an, Lester«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Das arme Ding… muss von einem Tier angefallen worden sein, einem Schwarzbären vielleicht. Oder einem Wolf.«
    Billings schwieg. Nur der Tabaksqualm wehte Osway um die Nase. Demzufolge musste sein Freund unmittelbar hinter ihm stehen. Aber er hörte nichts, nicht einmal Billings' Atem oder das Geräusch einer noch so kleinen Bewegung.
    »Lester?« Er schaute er über die Schulter zurück, sah nichts und drehte sich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher