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0700 - Aphilie

Titel: 0700 - Aphilie
Autoren: Unbekannt
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öffentlichen Verkehrssystems bedient, um an den westlichen Stadtrand hinauszufahren. Dort gab es weitläufige Erholungsflächen - Wälder und Parks, die nahezu in ihrem ursprünglichen Zustand belassen worden waren. Dort hofften sie, unterkriechen zu können, bis ihnen der neue Tag Gelegenheit zu neuen Unternehmungen bot.
    Aber die Staatspolizei war auf der Suche, darüber konnte es keinen Zweifel geben. Inzwischen hatte man Pakko vernommen, und Pakko war erstens intelligent genug und zweitens genügend lange mit Sergio Percellar zusammen gewesen, um zu wissen, daß Sergio der Norm des Neuen Menschen nur in höchst unvollkommener Weise entsprach. Mit anderen Worten: Sergio hatte die Umstellung vom emotionengebundenen „alten Menschen" zum rein logisch denkenden und agierenden „neuen Menschen" noch nicht vollzogen. Er war kein Aphiliker ... und das allein reichte aus, um ihn zum sofortigen Tod zu verdammen.
    Sylvia regte sich. Sergio blickte zur Seite und sah ihre Augen zu den Sternen hinauf gerichtet. Sie begann zu summen, und ihre Lippen formten halblaute Worte. Er kannte die Melodie, und die Worte, die sie in eigenartigem Singsang von sich gab, erfüllten ihn mit einem Gefühl wohliger Wärme und gleichzeitig mit unstillbarer Sehnsucht nach vergangenen Zeiten.
    „Nun aber hört", sprach Sylvia, „da waren einst Menschen, die einander liebten. Die Eltern liebten ihre Kinder und die Kinder ihre Eltern. Der Nachbar liebte seinen Nachbarn, und die Liebe war allgegenwärtig. Die Menschen lebten in Frieden miteinander, denn unter ihnen war Liebe."
    Sie schwieg. Sergio aber drängten sich die Worte förmlich auf die Zunge, die Worte, die er mit Sylvia gelernt hatte - Worte, die aus „dem Buch" stammten, das nur noch in einer Kopie existierte: in ihrer beider Gedächtnis.
    Er erhob sich in sitzende Stellung und sprach in dem gleichen Singsang, in dem auch Sylvias Worte erklungen waren: „Die Liebe hört niemals auf, so doch die Weissagungen aufhören werden und die Sprachen aufhören werden und die Erkenntnis aufhören wird."
    Er sank wieder in seine vorige Stellung zurück, und Sylvia fuhr fort: „Ihr aber, die ihr meint, die Liebe zu kennen - zu euch muß ich sagen: ihr wißt nicht, was Liebe ist. Denn das, was ihr Liebe nennt, ist tierische Begier. Eure Liebe ist die Brunst, die schnell aufflammt und ebenso schnell wieder verlischt. Eure Liebe ist nicht die unsere - in der Tat: eure Liebe ist es nicht wert, Liebe genannt zu werden."
    Sie schwieg. Sergio hörte sie schwer atmen. Er selbst war bis ins tiefste Innere aufgewühlt. Niemand rezitierte „das Buch", ohne daß er von diesen Worten ergriffen wurde, von den Worten einer alten Weisheit, die den Menschen dieser Tage völlig abhanden gekommen war.
    „Uns aber ist die Liebe ein heiliges Gut", fuhr Sylvia nach kurzer Pause fort, „ein wertvoller Besitz, der das Leben der Menschen miteinander überhaupt erst möglich macht. Die Liebe - das ist der Funke des Göttlichen, der in uns wohnt und uns Wärme und Licht in gleichem Maße spendet. Die Liebe - das ist der Unterschied zwischen Mensch und Tier. Die Liebe - das ist die Sehnsucht des Menschen nach der alten Heimat, nach den Tagen der Sonne, nach der Geborgenheit in der Hand der göttlichen Allmacht."
    An dieser Stelle erhob sich Sergio. Was er und Sylvia abwechselnd gesprochen hatten, war die Einleitung „des Buches". Es blieb nur noch ein Satz, der die Einleitung vollendete, und die Reihe war an ihm, diesen Satz zu sprechen.
    Mit voll tönender Stimme rief er in die Nacht hinaus: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe - diese drei, aber die Liebe ist die größte unter ihnen."
    Da erklang neben ihm leise ein uraltes Wort. Sylvia sprach es.
    Es gehörte nicht zum Text „des Buches". Sie setzte es aus eigenem Antrieb hinzu.
    „Amen ...", hörte Sergio sie sagen.
    Vor fünfzig Jahren, im siebzigsten Jahr ihres Umlaufs um die Sonne Medaillon, hatte es erste Anzeichen der nahenden Katastrophe gegeben. Sie waren mit Staunen, aber ohne Erkenntnis der drohenden Gefahr beobachtet worden. Eine bisher ungekannte Härte schlich sich in das Verhalten des Menschen seinem Mitmenschen gegenüber. Freundschaften zerbrachen, Kinder hörten auf, ihre Eltern zu lieben, Höflichkeit, Freundlichkeit wurden zu immer selteneren Tugenden. Ein neuer Menschentyp wuchs heran: der Aphiliker, das jeglicher Emotion bare, nur noch nach logischen Gesichtspunkten - und nach den Maßgaben der Urinstinkte - handelnde
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