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07 - Asche zu Asche

07 - Asche zu Asche

Titel: 07 - Asche zu Asche
Autoren: Elizabeth George
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Person sehen, die sich stets in alles einmischen mußte, sondern vielmehr als eine Frau mit vorbildlichem sozialen Gewissen. Die entsprechenden Referenzen kann sie vorweisen: ehemals Lehrerin für englische Literatur an einer stinkenden Gesamtschule auf der Isle of Dogs; vormals ehrenamtliche Wochenendvorleserin bei Blinden; an Feiertagen stellvertretende Leiterin für Sport und Spiel bei geistig Behinderten und in den Ferien Spendensammlerin erster Güte zur Bekämpfung jedweder Seuche, die gerade Medienfavorit war. Oberflächlich betrachtet, könnte man sich Mutter als eine Frau vorstellen, die mit einem Fläschchen Vitaminpillen in der Hand dabei ist, die Leiter zur Heiligsprechung zu besteigen.
    »Es gibt Dinge, die über unsere eigenen Belange hinausgehen«, sagte sie immer zu mir, wenn sie nicht gerade tief bekümmert klagte: »Willst du es mir heute wieder schwermachen, Olivia?«
    Aber zu Mutters Wesen gehört mehr, als daß sie dreißig Jahre lang wie ein Dr. Barnardo des zwanzigsten Jahrhunderts kreuz und quer durch London sauste. Das Wozu darf man dabei nicht vergessen. Und da wären wir schon wieder beim Selbstschutz.
    Da ich mit ihr unter einem Dach lebte, hatte ich Zeit genug zu versuchen, Mutters Leidenschaft für gute Werke zu verstehen. Allmählich erkannte ich, daß sie anderen diente, um sich selbst zu dienen. Solange sie sich im elenden Leben von Londons Armen und Geschlagenen geschäftig tummelte, brauchte sie nicht über ihr eigenes Leben nachzudenken. Und insbesondere brauchte sie nicht über meinen Vater nachzudenken.
    Ich weiß schon, daß es bei den jungen Leuten von heute große Mode ist, die eheliche Beziehung ihrer Eltern während ihrer eigenen Kindheit kritisch zu untersuchen. Gibt es ein besseres Mittel, die Auswüchse, Mängel und Schwächen des eigenen Charakters zu entschuldigen? Aber gedulden Sie sich und folgen Sie mir bitte auf diesen kleinen Ausflug in die Geschichte meiner Familie. Er erklärt, warum Mutter die ist, die sie ist. Und Mutter ist der Mensch, den Sie begreifen müssen.
    Niemals würde sie es zugeben, aber ich glaube, meine Mutter nahm meinen Vater nicht, weil sie ihn liebte, sondern weil er geeignet war. Er hatte zwar nicht im Krieg gedient, was etwas problematisch war, soweit es den Grad seiner gesellschaftlichen Annehmbarkeit anging. Aber trotz eines Herzrassens, einer kaputten Kniescheibe und angeborener Taubheit auf dem rechten Ohr besaß Dad wenigstens den Anstand, von schlechtem Gewissen geplagt zu werden, daß der Kelch des Militärdiensts an ihm vorübergegangen war. Er kompensierte seine Schuldgefühle, indem er 1952 einer der Vereinigungen zum Wiederaufbau Londons beitrat. Dort begegnete er meiner Mutter. Sie nahm an, seine Mitgliedschaft wäre Zeichen eines sozialen Gewissens, das dem ihren ebenbürtig war, und nicht eines dringenden Bedürfnisses zu vergessen, daß er und sein Vater in den Jahren von 1939 bis Kriegsende mit dem Druck von Propagandaschriften für die Regierung in ihrer Firma in Stepney ein Vermögen gemacht hatten.
    Sie heirateten 1958. Selbst heute noch, da Dad schon so viele Jahre tot ist, denke ich manchmal darüber nach, wie wohl die ersten Ehemonate meiner Eltern sich gestalteten. Ich frage mich, wie lange Mutter brauchte, um zu erkennen, daß Dads Potential leidenschaftlichen Ausdrucks nicht viel mehr umfaßte als Schweigen und ein gelegentliches humorvolles, liebes Lächeln. Ich pflegte sie mir vorzustellen, wenn sie zusammen im Bett waren: etwa nach dem Muster Tatsch, Grapsch, Schwitz, Stoß, Stöhn, Ächz, mit einem abschließenden »Sehr angenehm, meine Liebe« - für mich die Erklärung dafür, daß ich ihr einziges Kind war. Ich kam 1962 zur Welt, ein kleines Bündel Gutwilligkeit; die Frucht, da bin ich sicher, eines zweimal monatlich stattfindenden Beischlafs in der Missionarsstellung.
    Zu Mutters Ehre muß gesagt werden, daß sie drei Jahre lang getreulich die Rolle der pflichtbewußten Ehefrau spielte. Sie hatte sich einen Ehemann geangelt und somit eines der Ziele, die den Nachkriegsfrauen gesetzt waren, erreicht; und sie bemühte sich, ihm eine gute Frau zu sein. Doch je besser sie diesen Gordon Whitelaw kennenlernte, desto klarer wurde ihr, daß er sich ihr unter Vorspiegelung falscher Tatsachen verkauft hatte. Er war nicht der leidenschaftliche Mann, den sie sich als Ehemann erhofft hatte. Er war kein Rebell. Er kämpfte nicht für irgendeine Sache. Er war im Grund seines Herzens nur ein Drucker aus Stepney, ein guter
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