Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
0676 - Die Höhle des Grauens

0676 - Die Höhle des Grauens

Titel: 0676 - Die Höhle des Grauens
Autoren: Claudia Kern
Vom Netzwerk:
Sein Gesichtsausdruck war der eines Mannes, der einen großen Preis gewonnen hat. Wie einfach es doch gewesen war, seine Vorgesetzte dazu zu bringen, ihn mit den beiden Weißen gehen zu lassen! Der Spitzel lächelte. So würde allein ihm der Ruhm gebühren, wenn er die beiden Spione an die Staatspolizei auslieferte.
    Er tastete unauffällig nach der übergroßen, billig aussehenden Digitaluhr, die er am Handgelenk trug. Sein Führungsoffizier hatte sie ihm vor einiger Zeit überreicht und ihm damit seine Wertschätzung gezeigt. In dem schwarzen Gehäuse verbarg sich eine kleine funkgesteuerte Wanze, die er beim ersten Anzeichen von Gefahr per Knopfdruck aktivieren konnte. Ihre Reichweite war zwar relativ niedrig, reichte aber aus, um eins der zahlreichen Wachbüros auf der Baustelle zu alarmieren und auf seine Spur zu bringen.
    Lei Feng lächelte still und drückte auf den Knopf.
    ***
    Me Xiang stand gehorsam auf, als die Vorarbeiterin die Arbeitspause mit einigen groben Worten für beendet erklärte. Sie spülte ihre Reisschale mit ein wenig heißem Wasser aus und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie ihre Kollegen sich in den einzelnen Arbeitseinheiten aufstellten. Die kurze Begegnung mit den beiden Fremden hatte die Monotonie ihres Alltags für einen Moment durchbrochen und für Gesprächsstoff gesorgt. Me Xiang war sich sicher, daß die Arbeiter für den Rest ihres langen Tages darüber diskutieren würden.
    Die junge Frau, die als Kranführerin angestellt war, warf einen verstohlenen Blick auf die Höhle, aus der die Fremden aufgetaucht waren. Was hatten sie dort gewollt? Me Xiang glaubte keine Sekunde an die Geschichte, die Lei Feng seiner Vorarbeiterin aufgetischt hatte. Das waren keine Ingenieure, die Bodenproben nehmen wollten und sich verlaufen hatten, denn Ingenieure trugen normalerweise Werkzeug bei sich. Außerdem, aber das wußte keiner von ihren Kollegen, sprach Me Xiang Englisch und hatte mitverfolgen können, daß Lei Feng den beiden diese Erklärung förmlich aufgedrängt hatte. Über sein Motiv konnte sie nur spekulieren. Me Xiang hatte schon seit einiger Zeit den Verdacht, daß es sich bei Lei Feng um einen Spitzel handelte, der hier, auf der größten Baustelle der Welt, nach unzufriedenen Arbeitern suchte. Sie hatte zwar keinen Beweis, aber wenn man lange genug im Untergrund arbeitete, lernte man, wie Menschen einzuschätzen waren.
    Me Xiang dachte an ihre Freunde, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, Menschenrechtsverletzungen in der Volksrepublik publik zu machen und öffentlich anzuklagen. Früher hatte sie sich fast jede Woche mit ihnen getroffen, um Erfahrungen auszutauschen und Neuigkeiten zu erfahren. Doch diese Treffen waren in den letzten Monaten zu gefährlich geworden. Die Polizei und die Geheimdienste überwachten die Arbeiten am Staudamm des Yangtse mit Argusaugen. Chinas Jahrtausendprojekt, mit dem der viertgrößte Fluß der Welt gebändigt werden sollte, durfte weder durch Sabotage, noch durch die allzu große Kritik ausländischer Menschenrechtsund Umweltschutz-Organisationen gefährdet werden. Nach Meinung der Staatshüter waren ohnehin schon zu viele Informationen an die Presse gelangt. Eine ganze Reihe westlicher Investoren hatte sich unter dem Druck der öffentlichen Meinung aus dem Projekt zurückgezogen. Die Finanzierung war nicht mehr gesichert, und einige Stimmen sprachen bereits vom Ruin der Volksrepublik. Me Xiang verspürte Stolz, wenn sie daran dachte, daß sie durch die Fotos und Berichte, die sie heimlich an die richtigen Stellen weitergeleitet hatte, zu einem Sandkorn im Getriebe des Staudammprojektes geworden war.
    Hinter ihr verstummte das Klingeln der Fahrräder, mit denen die Männer und Frauen der Baukolonne zurück zur Arbeit fuhren. Niemand hatte bemerkt, daß eine der Kranführerinnen fehlte. Me Xiang bog die Sträucher zurück, die den Eingang der Höhle vor einem zufälligen Blick versteckten. Dahinter sah sie nur Dunkelheit. Die Gedanken der Menschenrechtlerin kehrten zu den beiden Fremden zurück, die aus dieser Höhle gekommen waren. Wenn sie keine Ingenieure waren, was waren sie dann? Nach Touristen sahen sie jedenfalls nicht aus, auch nicht nach Journalisten, die gegen den Willen des Staats die Arbeitsbedingungen am Staudamm dokumentieren wollten. Daß die beiden Spione oder Saboteure waren, konnte die Chinesin auch nicht glauben, obwohl Lei Feng sie sicherlich als solche auf der nächsten Polizeiwache anschwärzen würde. Me Xiang hoffte, daß
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher