Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
0676 - Die Höhle des Grauens

0676 - Die Höhle des Grauens

Titel: 0676 - Die Höhle des Grauens
Autoren: Claudia Kern
Vom Netzwerk:
Daumennagel.
    Er nickte, obwohl Zamorra die Geste nicht sehen konnte. »Ja, das könnte Tageslicht sein.«
    Sie tasteten sich weiter vorwärts. Das Licht wurde größer und erhellte ihren Weg. Nach einigen Metern sahen sie einige Sträucher und hatten Gewißheit.
    »Wir haben tatsächlich den Ausgang gefunden«, sagte Zamorra mit neuem Optimismus.
    »Damit haben wir die erste Hürde genommen. Sollten wir in China gelandet sein, verhalten wir uns eben einfach unauffällig, bis wir eine Lösung gefunden haben.«
    Gryf bog einige Sträucher zur Seite und blieb von der Morgensonne geblendet stehen. Seine Augen benötigten einen Moment, um sich den neuen Lichtverhältnissen anzupassen. Dann offenbarte sich die Landschaft vor ihm und der Druide holte tief Luft.
    Er blickte auf einen riesigen Steinbruch, der sich über Kilometer erstreckte.
    Es sah aus, als habe ein Gigant mit den Zähnen einen Teil der Erde herausgerissen. Über ihm erhoben sich grün bewachsene Felsen, die wie Finger in den Himmel ragten. Die Luft war erfüllt von Staub, der die Sonne verschwimmen ließ und zum Husten reizte. Aus einem ausgetrockneten Flußbett dröhnte der Lärm großer Baumaschinen herüber.
    Aber das schien die weit über hundert Bauarbeiter, die vor ihm im auf der braunen Erde saßen, nicht zu stören. Sie alle hatten kleine Schalen in den Händen, aus denen sie. Reis und Gemüse mit Stäbchen in ihre Münder schaufelten. Neben jedem Arbeiter stand ein kleines Einmachglas voll Tee, das sie immer wieder mit heißem Wasser von einer Feuerstelle auffüllten. Im Hintergrund befand sich ein Fahnenmast, an dem eine große rote Fahne befestigt war, die im Wind flatterte.
    Gryf bemerkte besorgt, daß die ersten Arbeiter die beiden Fremden entdeckt hatten und andere aufgeregt anstießen.
    Innerhalb von Sekunden verstummten die Gespräche und das geschäftige Klappern der Bambusstäbchen.
    Es wurde ruhig in dieser Ecke des Steinbruchs.
    Alle Augen richteten sich auf die beiden Europäer.
    »Soviel zum Thema unauffälliges Verhalten«, murmelte Zamorra.
    Gryf nickte und lächelte die Chinesen an.
    »Morgen«, sagte er freundlich.
    ***
    Lei Feng stellte die Reisschale beiseite und beobachtete erstaunt, wie der eine Fremde den anderen am Arm faßte und mit ihm gemeinsam einen Schritt nach vorn machte. Dann blieben sie stehen. Einer der beiden schüttelte in einer frustrierten Geste den Kopf, so als habe er sich von diesem Schritt etwas erwartet, das nicht eingetreten war.
    Der junge Ingenieur wunderte sich nicht über das exzentrisch anmutende Verhalten der Weißen. Ausländer, das wußte jeder Chinese, waren nun einmal seltsame Wesen, die seltsame Dinge taten. Man konnte nicht hoffen, sie zu verstehen, man konnte sie höchstens tolerieren. Lei Feng hatte dieses Prinzip nie in Frage gestellt, obwohl er ein Jahr an der Universität von New York studiert hatte. Aber auch in der fremden Stadt hatte er den Kontakt zu Einheimischen gemieden und sich so gut es ging in Chinatown isoliert. Es war eine einsame Zeit gewesen, in der er außerhalb der Hörsäle und den kahlen Wänden seines kleinen Zimmers kaum Abwechslung fand. Und doch, so glaubte er, war er nach diesen zwölf Monaten gestärkt in seine Heimat zurückgekehrt. Weder die auf Leuchtreklamen gebannten Versuchungen des verweichlichten Westens noch die langen Diskussionen mit seinen amerikanisierten Landsleuten hatten ihn von seinem ideologisch gefestigten Kurs abbringen können. Er war standhaft geblieben und stolz darauf. Seine Freunde und Verwandten hatten nicht verstanden, warum man den begabten und linientreuen Lei Feng nach seiner Rückkehr nicht mit der Leitung einer Arbeitseinheit belohnt hatte, so wie es üblich gewesen wäre, aber der junge Ingenieur hatte nur abgewinkt. Für ihn kam eine solche Ehrung nicht in Frage, denn seine Arbeit konnte nur in der Anonymität der Masse erledigt werden. Als Leiter einer Arbeitseinheit wäre er nicht nur ein Vorarbeiter, sondern auch ein politisches Instrument und ein Vorbeter der Parolen aus Peking geworden. Und das konnte er sich nicht leisten, denn es war ausschlaggebend, daß seine Kollegen ihm vertrauten.
    Lei Feng hatte geschworen, die Volksrepublik China zum Wohle der Bevölkerung und der Partei vor allen inneren und äußeren Feinden zu schützen. Mao gab uns einst die Freiheit, nicht mehr wählen zu müssen, dachte er, und diese Freiheit werde ich uns erhalten.
    Lei Feng war ein nicht offizieller Mitarbeiter der Guojia Anquan Bu, der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher