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Nur ein Jahr, Jessica!

Nur ein Jahr, Jessica!

Titel: Nur ein Jahr, Jessica!
Autoren: Berte Bratt
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Medizinstudentin Jessica Berner
     
     
    Mein Name ist Jessica. Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt. Als die ganze Geschichte anfing, die ich erzählen werde, war ich zweiundzwanzig. Zweiundzwanzig- und überglücklich!
    Ja, wenn ich an den Tag zurückdenke! Die Sonne strahlte, und das Leben erschien mir wunderschön. Ich stand vor der Universität in Kiel neben meiner Freundin Reni. Wir hielten uns die Hände, wir drückten sie ganz fest, damit wir beide wußten, daß dieser Augenblick Wirklichkeit war und kein Traum.
    Wir hatten beide die ärztliche Vorprüfung, das Physikum, mit Eins bestanden! Die erste große Hürde in unserem Medizinstudium war geschafft, und wie geschafft. Vergessen schienen alle Sorgen, das Büffeln bis tief in die Nacht, mein knapper Monatswechsel, alle Entbehrungen – nein, wie haben wir uns gefreut!
    „Nichts wie los zum Telegrafenamt!“ sagte Reni.
    „Und dann nichts wie los, um Falko zu erwischen!“ ergänzte ich.
    „Glückspilz“, seufzte Reni. „Du hast deinen Herzallerliebsten fünf Minuten von hier entfernt, und meiner sitzt auf der anderen Erdhalbkugel!“
    „Dafür bist du mit deinem verheiratet“, betonte ich. „Wie teuer ist eigentlich ein Telegramm nach Mombasa?“
    „Wahnsinnig!“ Reni lachte. „Aber ich brauche nur ein einziges Wort zu telegrafieren, nämlich ,Eins’. Dann weiß er Bescheid. Und in einer Woche bin ich bei ihm!“
    „Wer von uns beiden ist dann der Glückspilz?“ fragte ich, als Reni die Autotür aufmachte. Sie hat einen alten VW, genannt Theodor, womit sie durch die Gegend flitzt. Sie wohnt mit ihrer Schwiegermutter zusammen in deren Häuschen außerhalb von Kiel. Gerade jetzt arbeitete ihr Mann, der sich als Tropenarzt ausbilden ließ, für drei Monate an einem Krankenhaus in Mombasa. Und da Reni einen reichen Vater hat, konnte sie es sich leisten, zu ihrem Marin zu fliegen und die Semesterferien bei ihm zu verbringen.
    Renis geübter Blick erfaßte eine winzige Parklücke vor dem Postamt, und dann standen wir beide eifrig über unsere Telegrammformulare gebeugt.
    Ich war es gewohnt, jeden Groschen zehnmal umzudrehen, aber diesmal habe ich das Geld mit Freude ausgegeben. Niemals zuvor hatte ich meine Kröten so vernünftig angelegt wie für dieses Telegramm an meine Eltern: „Kaufmann Berner, Birkendorf. Mit Eins bestanden. Jessica.“
    Oh, wie würden sie sich freuen!
    Gleich daraufbrachten Morsezeichen dieselbe, beinahe gleichlautende Nachricht an Direktor Thams in Hirschbüttel. An zwei stolze Elternpaare und außerdem, wie gesagt, ein sündhaft teures Telegramm an Dr. med. Manfred Ingwart in Mombasa.
    „Fahr bloß auf dem schnellsten Wege nach Hause, Reni“, sagte ich. „Deine liebe Schwiegermutter sitzt schon seit dem frühen Morgen und drückt dir die Daumen, wie ich sie kenne.“
    „Ich wollte dich eigentlich…“, fing Reni an.
    „Brauchst du nicht. Ich habe reichlich Zeit. Falko kommt erst in einer Stunde von seiner Vorlesung.“
    „Na gut, dann brause ich los. Muttchens Daumen sind bestimmt schon grün und blau!“
    Dann wanderte ich durch sonnige Straßen zur Klinik, wo mein auserkorener Falko sich augenblicklich befand. Ich dachte an ihn und an meine Eltern. Ich wußte sehr gut, daß es Vati ein großes Opfer kostete, mich studieren zu lassen. Ich wußte, daß ein paar Onkel und Tanten gemeckert hatten: Was sollte das, litt denn das Mädchen an Größenwahn, warum besuchte sie nicht einfach eine Handelsschule, damit sie ihrem Vater im Geschäft helfen konnte? Was sollte das teure Studium, sogar ein so langwieriges wie Medizin?
    Jetzt könnte Vati ihnen das Telegramm unter die Nasen halten, und er würde es mit Wonne tun!
    Vati hatte das Geschäft von Opa geerbt. Zu Opas Zeiten war es ein ganz einfacher Dorfladen, wo alle Einwohner Birkendorfs ihren Kaffee, ihre Butter, Haarspangen, Schreibpapier und Nähgarn kauften. Das Geschäft ging gut. Es gab ja auch keine Konkurrenz. Wer etwas kaufen wollte, mußte entweder mit der Bahn in die Stadt fahren oder zum Dorfkrämer Berner gehen.
    Als ich geboren wurde, wohnten meine Eltern noch auf dem Lande. Aber die Großstadt wuchs und wuchs und kam immer näher. Die kleine Bahn wurde aufgelöst, statt dessen Busverbindungen eingerichtet. Es wurde leichter, in die Stadt zu fahren. Bald warfen die ersten Hochhäuser ihre Schatten über unsere Wiesen und friedlichen Wege. Birkendorf war kein Dorf mehr, sondern zum Vorort geworden. Da entstanden moderne Gasthäuser und neue
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