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0603 - Nächte des Schreckens

0603 - Nächte des Schreckens

Titel: 0603 - Nächte des Schreckens
Autoren: Andreas Kasprzak
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gegenüber.
    Mike spürte, wie sich unter dem bohrenden Blick der alten Frau die feinen Härchen auf seinen Oberarmen aufrichteten, als stünden sie unter Strom. Die Angst, die an ihm nagte wie eine Ratte, steigerte sich ins Unermeßliche. Er konnte einfach nicht begreifen, was er sah, schließlich war seine Mutter lange tot.
    Sie konnte überhaupt nicht hier sein, in diesem verdammten Haus mitten im Nirgendwo von Connecticut.
    Und dennoch…
    Es mußte seine Mutter sein, die dort vor ihm stand, so nahe, daß er nur die Hand nach ihr hätte auszustrecken brauchen, um sie zu berühren. Sie war es, wie auch immer das möglich sein sollte, und wenn es noch eines letzten Beweises bedürft hatte, um ihn von der Realität der alten Frau zu überzeugen, so erhielt er ihn, als Floriana Myers schließlich das Wort an ihn richtete.
    »Michael«, sagte sie. »Mein Sohn.«
    Mike schluckte. »Was… Wie…« Seine Stimme brach. Er riß sich zusammen, versuchte es erneut. »Was willst du, Mutter?«
    »Das, was alle Toten wollen«, erwiderte die alte Frau, ohne auch nur eine Miene zu verziehen. »Gerechtigkeit.«
    »Gerechtigkeit? Wofür?«
    »Das weißt du genau.«
    Mike schüttelte den Kopf. »Nein, ich…«
    »Du hast mich umgebracht«, unterbrach ihn die Alte. Ein anklagendes Funkeln trat in ihre pechschwarzen Augen, die von einem unirdischen Feuer beseelt schienen. »Du ganz allein.«
    »Das stimmt nicht«, widersprach Mike hektisch. Sein Puls raste wie ein Sportwagen, angetrieben von der blinden Panik, die ihn erfüllte. »Ich konnte nichts dafür! Es war ein Unfall! Ein schrecklicher Unfall!«
    »Unfälle passieren«, entgegnete seine Mutter kalt. Nichts in ihrem Antlitz verriet, was in ihr vorging. »Morde auch!«
    Bei diesen Worten zuckte Mike Myers zusammen, als hätte ihm eine unsichtbare Hand mitten ins Gesicht geschlagen. In ihm wuchs der Drang, vor seiner Mutter zurückzuweichen, vor ihr zu fliehen. Doch er wußte, daß das sinnlos wäre. Er würde ihr nicht entkommen. Ebenso wenig wie dem Haus.
    Er saß in der Falle…
    »Es war ein Unfall«, wiederholte er weinerlich. »Wie konnte ich wissen, daß das Geländer nachgeben würde?« Er war ganz blaß im Gesicht geworden, konnte sich kaum auf den Beinen halten. Sein Schädel begann zu dröhnen, als sich die Kopfschmerzen ausbreiteten.
    »Du hast es gewußt«, erwiderte die Alte kalt. »Du wußtest ganz genau, daß das Geländer morsch war. Du wolltest, daß ich runterstürze und mir den Hals breche. Damit du mich los bist. So ist es doch, nicht wahr, mein Sohn? Du hast mich umgebracht, damit du endlich deine Ruhe hast. Doch die wirst du nie finden. Niemals! So lange es mich gibt.« Sie kicherte boshaft; ein Geräusch, das in der undurchdringlichen Schwärze seltsam dumpf und hohl klang.
    Mike konnte nicht länger an sich halten. Der Spott in der Stimme seiner Mutter war zuviel - oder war es der Umstand, daß sie Mike mit der bitteren, unleugbaren Wahrheit konfrontierte, die er all die Jahre über verdrängt hatte?
    Was auch immer, plötzlich drehte Mike völlig durch, wirbelte herum und rannte in die Dunkelheit, wo sich eigentlich irgendwo die Wand des Hauses befinden mußte.
    Seine Mutter hinter ihm stieß noch immer dieses schrecklich tonlose Lachen aus.
    »Du kannst nicht von mir weglaufen, Michael!« rief sie ihm dann nach. Ihre Worte trieften vor Hohn. »Du bist ein Teil von mir! Du gehörst zu mir! Ich bin deine Mutter«
    »Nein!« brüllte Mike lauthals. »Nein!«
    Er hastete durch die Finsternis, stolperte kopfüber in die Schwärze, hoffend, daß es ihm irgendwie gelingen würde, diesem Alptraum zu entfliehen. Seine Gedanken rasten, versuchten, die Wahrheit hinter der Behauptung seiner Mutter zu leugnen, aber in seinem tiefsten Innern wußte er, daß sie recht hatte.
    Er war ein Teil von ihr.
    Ebenso wie sie ein Teil von ihm war.
    Mutter und Sohn, untrennbar verbunden…
    Dennoch lief Mike weiter. Seine Beine bewegten sich ganz von allein. Automatisch setzte er einen Fuß vor den anderen, rannte so schnell, wie er nur konnte.
    Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand, was es mit dieser endlosen Schwärze auf sich hatte. Und mittlerweile war es ihm auch egal. Sein Geist befand sich in einer Einbahnstraße, kreiste nur noch darum, zu entkommen.
    Zu entkommen und die Schuld, die er damals auf sich geladen hatte, zu vergessen!
    Denn Mike hatte sich gewünscht, daß seine Mutter starb. Gott, wie hatte er gehofft, daß sie eines Tages einfach nicht mehr aufwachen
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