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06 - Weihnacht

06 - Weihnacht

Titel: 06 - Weihnacht
Autoren: Karl May
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Gesicht wieder hob und Winnetou und mir die Hände reichte:
    „Welch ein Tor bin ich gewesen, was für ein großer Tor!“ sagte er. „Ich will euch gestehen, daß ich seelisch blind war, vollständig blind. Meine Frau schreibt mir, daß ihr nicht wißt, welchem Stande ich drüben angehört habe, und es würde auch zu nichts führen, wenn ich es euch jetzt mitteilte; aber ich war stolz, eingebildet und oft sogar brutal mit denen, welche nicht so hoch standen wie ich. Ich glaubte, nichts als nur Herr zu sein, und dachte nie daran, daß ich alles nur dem Zufall der Geburt zu verdanken hatte und ebensogut der Sohn eines niedrigstehenden armen Teufels hätte sein können. Ich lachte über die Leute, welche da sagen, daß der von Gott geschenkte Adel verpflichte, auch wirklich adelig zu sein und adelig zu handeln; ich höhnte über die christliche Lebensregel, welche dem Hochstehenden gebietet, Liebe zu säen, um dafür doppelt Liebe zu ernten. Ich säte Hochmut und erntete Widersetzlichkeit und Haß; ich streute Dünkel und Verachtung aus und bemerkte nicht, daß infolgedessen überall der Abfall und die Rache keimten. Durch meinen Hochmut machte ich mir einen Mann zum Feind, der gewissenlos und dabei mächtiger und klüger war als ich; er beschloß, mich zu stürzen, und dies gelang ihm nur zu gut. Ein einziger Tag genügte, mich zum ehrlosen Bettler zu machen. Nun suchte ich Unterstützung und Hilfe ringsumher; ich wurde überall mit derselben Verachtung abgewiesen, welche ich vorher so reichlich ausgegeben hatte. Ein einziger Mensch, ein Nachbar, nahm sich unser an, aber auch nicht meinet-, sondern meiner Frau und ihres Vaters willen. Ich war, anstatt in mich zu gehen, außer mir; ich wütete gegen das Gesetz, gegen die Behörden; die Folge war, daß ich mich nur durch die Flucht den schlimmeren Folgen entziehen konnte; ich entkam nach Amerika. Mein Weib folgte mir mit unserem Kinde; ihr Vater war unterwegs elend zugrunde gegangen. Ich sah auch jetzt noch nicht ein, daß ich, nur ich allein, unser Unglück verschuldet hatte. Ich haderte gegen das Schicksal, denn mit Gott konnte ich nicht hadern, weil ich den Glauben an ihn längst zu den Kindermärchen geworfen hatte. Ich machte sogar meiner Frau, die mir aufopferungsvoll und treu in die Ehrlosigkeit und Verbannung gefolgt war, das Leben zur Qual. Ich trachtete nur nach Geld, nach Geld, nach Geld, welches ich brauchte, um den Prozeß, welcher meine Unschuld beweisen sollte, anstrengen zu können. Darum ging ich hier so schnell und mit Freuden darauf ein, das Finding-hole mit auszunehmen, und darum stellte ich mich sofort auf die Seite eurer Gegner, als Winnetou behauptete und auch bewies, daß es nicht uns, sondern ihm gehöre. Ich war noch härter geworden, als ich früher war; ich besaß keinen Gott, keinen Glauben, keine Liebe; die Demut war mir ein lächerlicher Begriff, und darum kam ich nie zur Einkehr in mich selbst. Nur Rache, Vergeltung brütete ich; diese beiden waren die Göttinnen, denen ich diente. Alle meine Gedanken, meine Wünsche und Bestrebungen wurden nur von dem glühenden Verlangen geleitet, nach dem grausamen Gesetze ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn‘ zu handeln. Da stürzte drüben die Lawine herab, und es kam die Ewigkeit jener fürchterlichen halben Stunde, in welcher Gott mir Antwort auf meine Lästerungen gab. Ich will und kann auch nicht beschreiben, was ich in dieser kurzen und doch so langen Zeit fühlte und dachte. Mein ganzes Leben ging an mir vorüber; ich durchlebte es noch einmal, aber nicht in dem Glanze, der mich einst umgab, sondern vor dem knirschenden Gebiß des Bärenrachens, dessen Zähnen ich in gottloser Lästerung mein Gehirn verschrieben hatte. Da tagte es in mir, schnell und licht; ich sah, was ich gewesen war. Man sagte, daß in der Stunde des Sterbens das ganze Leben mit allen begangenen Fehlern in greller Beleuchtung an dem Auge vorüberzieht; bei mir wurde diese Sage wahr. Im Reichtum und auf hoher Staffel geboren, war ich das ganze Leben hindurch mein eigener Gott gewesen, um jetzt, am Ende desselben, nichts zu sein als ein elender, armseliger Raubtierfraß, der nicht einmal nach Hilfe rufen durfte! Ich mußte schweigen, denn jeder Ruf hätte den Bären auf mich gelenkt; aber meine ganze Seele war ein einziger Schrei, ein einziges Gebet um Rettung aus dieser Todesnot. Und Gott erhörte dieses Gebet; er sandte in seiner Weisheit grad die zu meiner Befreiung, deren Feind ich ohne Veranlassung von ihnen geworden war.
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