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06 - Weihnacht

06 - Weihnacht

Titel: 06 - Weihnacht
Autoren: Karl May
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Und nun, was tun sie jetzt? Anstatt sich zu rächen, bescheren sie mir, geben mir alles, alles wieder, was ich verloren habe, alles und noch viel, viel mehr dazu! Denn, daß ihr wißt, ihr habt mich zu einem andern Menschen gemacht. Ich glaube nun an Gott, und ich weiß, weshalb mich seine weise Hand in die Tiefe führte. Was ich nie besessen habe, ich werde es von heute an besitzen: das wahre Lebensglück, denn ich werde von jetzt an sein, wie ich nie gewesen bin: gläubig, demütig und voll Vertrauen gegen Gott, streng gegen mich selbst und liebevoll und hilfsbereit gegen alle Menschen, welche, wie ich jetzt erkenne, meine Brüder sind. Ich habe eine schwere Schule durchgemacht; ein anderer an meiner Stelle wäre da wohl zugrunde gegangen; aber Gott wußte gar wohl, daß es bei mir so starker Mittel zur Heilung bedurfte, und Ihr, Mr. Shatterhand, habt ja schon als Knabe ganz richtig gesagt:
    Hat der Herr ein Leid gegeben, Gibt er auch die Kraft dazu;
Bringt dir eine Last das Leben,
Trage nur, und hoffe du!“
    Er hatte, wohl damit Winnetou alles verstehen solle, englisch gesprochen; diese Strophe aber sagte er natürlich deutsch. Als Reiter sie hörte, fiel er in froher Überraschung schnell ein:
    „Was – – was bringen Sie da für Verse?! Die sind ja aus dem Gedichte, welches mir mein Vater geschickt hat! Es stammt von einem seiner früheren Schüler. Woher haben Sie es denn?“
    Hiller sah erst ihn, hierauf mich an und fragte ihn dann:
    „Kennen Sie diesen einstigen Schüler? Wissen Sie, was aus ihm geworden ist?“
    „Nein.“
    „Ah, das ist interessant, hochinteressant! Auch ich habe bis zu dieser Stunde keine Ahnung davon gehabt; aber hier im Briefe meiner Frau wird es gesagt. Sie brachte das Gedicht mit von drüben herüber, und es ist ihr eine wahre, feste Stütze in jedem Leid gewesen. Ich lachte darüber, habe es aber doch so oft von ihr und meinem Sohne gehört, daß ich es wohl auswendig kann. Es ist, als ob jener Schüler die Worte:
    Blicke auf dein Kind hernieder, Das sich sehnt nach deinem Licht;
Der Verlorne naht sich wieder;
Geh mit ihm nicht ins Gericht!
    nur auf mich gedichtet hätte. Meine Frau hörte es einst unter einem Weihnachtsbaume von einem Mitschüler des Verfassers. Wir sitzen auch hier, im wilden Westen, unter dem Christbaume, und nichts gehört so zur heutigen Feier, wie dieses Gedicht. Ich werde zwar wahrscheinlich verschiedene Male stocken, aber ich denke doch, daß ich nichts auslassen werde; also will ich es jetzt – – –“
    „Halt, halt!“ unterbrach ihn Reiter. „Ich kann es auswendig und werde keine Fehler machen. Erlauben Sie also, daß ich es deklamiere!“
    Da erklang die Stimme Carpios:
    „Nein, keiner von Ihnen, sondern nur ich darf das tun. Old Shatterhand will es so, und er hat das Recht, zu bestimmen, denn er ist der Dichter, und ich bin jener Mitschüler, von welchem Mr. Hiller gesprochen hat!“
    Er hatte das zwar langsam und müde, aber deutlich gesagt, Reiter wollte seiner Verwunderung Worte geben; ich winkte ihm aber, still zu sein.
    „Komm, lieber Sappho!“ bat Carpio. „Richte mich auf und nimm mich an deine Brust! Ich weiß, daß ich jetzt zum letztenmal im Leben sprechen werde, und das sollen deine Weihnachtsworte sein!“
    Ich erfüllte seinen Wunsch und hielt ihn an meinem Herzen fest. Über uns leuchteten die Sterne Gottes; vor uns brannten die Lichtreste des Christbaumes; sie waren abgebrannt und begannen, nacheinander zu erlöschen. So verlischt das Menschenleben hier im Erdentale; aber droben am Firmamente leuchten die Wahrzeichen des ewigen Lebens weiter, und jeder Strahl von ihnen soll uns sagen, daß der Tod nichts anderes als die Pforte des Himmels, der Anfang einer herrlichen Auferstehung sei. Der Sterbende faltete die Hände und ließ sein Auge stumm auffordernd rund im Kreise gehen; er wurde verstanden, und jeder legte die Hände auch zusammen. Ein milder, frommer Gotteshauch schien durch das abgeschlossene Tal zu wehen; es lagerte rings um uns jetzt in Wahrheit das, wovon das liebe Christlied singt: eine stille Nacht, eine heilige Nacht. Mit einem seligen Lächeln auf dem todesbleichen, eingefallenen Angesicht begann Carpio:
    „Ich verkünde große Freude, Die euch widerfahren ist,
Denn geboren wurde heute
Euer Heiland Jesus Christ!
    Jubelnd tönt es durch die Sphären,
Sonnen künden's jedem Stern;
Weihrauch duftet auf Altären,
Beter knien nah und fern. – – –“
    Er hatte laut angefangen; aber seine Stimme verlor
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