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06 - Weihnacht

06 - Weihnacht

Titel: 06 - Weihnacht
Autoren: Karl May
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von Strophe zu Strophe mehr von ihrer Stärke, doch hörte man bei der rundum herrschenden tiefen Stille deutlich jedes einzelne Wort. Ich sah, daß er die Augen schloß, dennoch sprach er weiter, langsamer und immer langsamer. Es klang so fremd, so sonderbar, wie aus einer andern, uns unbekannten Sphäre herüber. Ich war tief erschüttert und weinte wie ein Kind; ob auch andere weinten, sah ich nicht, weil die Tränen mir ohne Aufhören die Augen füllten. Bei der Stelle
    „Und der Priester legt die Hände, Segnend auf des Toten Haupt“
    breitete er die Arme aus und fuhr mit erhobener Stimme fort:
    „Selig, wer bis an das Ende An die ewge Liebe glaubt!“
    Damit war aber seine Kraft erschöpft, denn nun klang es leiser, immer leiser, nach und nach ersterbend:
    „Selig, wer aus Herzensgrunde Nach der – – Lebensquelle – strebt
Und – – noch in der – – letzten – Stunde
Seinen – – – Blick – – zum Himmel – – –“,
    und das letzte Wort ‚hebt‘ verhauchte in einem fast unhörbaren Seufzer. Carpio war tot. Der Himmel hatte nicht nur seinen letzten Blick, sondern ihn selbst emporgezogen. Das letzte Licht am Baum verlöschte; es war, als ob das ganze Tal und jeder von uns stumm geworden sei. Ich hielt den Toten noch fest an der Brust. Da bog Hiller sich von seinem Platze weit herüber, legte ihm die Hand auf das niedergesunkene Haupt und vollendete mit vor Bewegung zitternder Stimme das Gedicht:
    „Suchtest du noch im Verscheiden Droben den Erlösungsstern,
Wird er dich zur Wahrheit leiten
Und zur Herrlichkeit des Herrn.
    Darum gilt auch dir die Freude,
Die uns widerfahren ist,
Denn geboren wurde heute
Auch dein Heiland Jesus Christ!“
    Kein Licht brannte mehr am Baum, und so waren die Tränen nicht zu sehen, welche in den Augen aller glänzten, wenigstens aller Weißen, den alten Lachner abgerechnet, der sich auch jetzt nicht bei uns befand. Einer stand nach dem andern auf und ging fort, ohne ein Wort zu sagen, denn die Stelle, an welcher eine Seele von ihrem Körper scheidet, ist ein heiliger Ort, den man durch Schweigen ehrt. Ich saß allein, mit dem Toten an der Brust, bis nach langer Zeit Winnetou kam und zu mir sagte:
    „Mein Bruder lege die Hülle seines armen Freundes fort; wir werden ihr morgen eine Wohnung errichten, die länger als sie bestehen wird. Der Geist ist bereits hinaufgestiegen zum großen, guten Manitou, wo ewige Bäume der Erlösung brennen, die nicht verlöschen wie dieser hier bei uns. Wir werden Feuer anbrennen zu beiden Seiten des Dahingeschiedenen und bei ihm die Totenwache halten, bis der Morgen angebrochen ist. Er ging gern aus diesem Leben; einst werden wir ihm folgen, um ihn wiederzusehen.“
    Wir bauten aus Steinen, Ästen und Zweigen einen Katafalk, über den das Bärenfell gebreitet wurde, und betteten Carpio darauf. Dann wurden rechts und links Feuer angezündet, bei deren Flackerschein Winnetou und ich dem Toten die letzte Wache hielten. In der Frühe befahl der dann den Schoschonen, ein Grabmal zu errichten, welches seines und Old Shatterhands Freundes würdig sei.
    Steine waren genug vorhanden, ein Mausoleum herzustellen, welches den wilden Tieren und dem Zahn der Zeit auf lange Jahre trotzte. Als es am Nachmittag fertig war, begruben wir Carpio in christlicher Weise. Auch die Schoschonen knieten nieder und falteten die Hände, als ich das letzte Gebet sprach. Dann wurde das Grab geschlossen, und Wagare-Tey, der junge Häuptling der Schlangenindianer, versprach mir, bei seinem nächsten Jagdzuge hierher, es mit immergrünem Gesträuch zu umpflanzen. Ich bin später dort gewesen und habe mich überzeugt, daß er sein Wort gehalten hat.
    Am nächsten Morgen wurde aufgebrochen. Wir waren wie Brüder untereinander, und nur die Anwesenheit des alten Lachner störte uns. Dieser Mensch machte uns außerordentlich zu schaffen. Er hatte zu gar nichts guten Willen und Geschick. Er kam in den Schneeschuhen nicht mit uns fort; wir mußten ihn schleppen und unterstützen, und weil wir für alle unsere Mühe keine freundliche Miene, kein einziges gutes Wort von ihm bekamen, war es gar kein Wunder, daß die Roten schließlich nicht allzu zart mit ihm umgingen. Es konnte weder mir noch Winnetou einfallen, sie zu größerer Rücksicht zu bewegen; er war es nicht wert. Als wir die Winterlager der Schoschonen erreichten, befand er sich in einem solchen Schwächezustand, daß er sich nicht länger aufrechthalten konnte. Er war der erste Patient, den
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