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035 - Wettlauf gegen die Zeit

035 - Wettlauf gegen die Zeit

Titel: 035 - Wettlauf gegen die Zeit
Autoren: Jo Zybell
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Hirn war nicht in der Lage, das zu beurteilen. Es schwebte zwischen Nacht und Dämmer auf und ab. Es tauchte auf, es tauchte unter, manchmal in warmes gelbliches Licht, manchmal in Dunkelheit. Und immer das Pochen wie beruhigend, wie einfach.
    Hin und wieder formten sich Gesichter aus dem Nichts. Das geschah, wenn sein Hirn auftauchte. Es waren gute Gesichter. Und wenn sie ihre Münder bewegten, kamen schöne Stimmen heraus. Schöne Worte.
    »Mein Davy«, sagte das Gesicht seiner Mutter. »Mein süßer kleiner Davy…«
    »Dave«, sagte Daanahs Gesicht. »Mein wilder starker Dave…«
    Auch seinen Bruder Mickey sah er, ganz klar sah er ihn, und ganz deutlich hörte er seine Stimme: »Du wirst deinen Weg machen, David McKenzie«, sagte Mickeys Stimme. »Du wirst deinen Weg machen, ich schwörs dir…«
    Es war so gut. Und das allgegenwärtige Pochen ließ die warme Flüssigkeit um ihn herum pulsieren. Es war das Leben, was da pulsierte. Er tauchte gern aus dem Nichts auf, er tauchte gern in das Nichts unter. Alles war so einfach.
    Verschwommen sah er manchmal menschliche Gestalten durch das gelbliche Licht hindurch.
    Nicht Daanah, nicht Mickey, auch nicht Ma.
    Er kannte sie nicht, und trotzdem versuchte er ihnen zuzulächeln.
    Und einmal war eine Gestalt dabei, die trug etwas Weißes um den Kopf, vielleicht einen Turban, vielleicht einen Verband. Es interessierte ihn nicht. Lange stand die Gestalt jenseits des warmen gelben Lichtes. Wer bist du?, dachte etwas in seinem Hirn, bist du's, Mickey…?
    Auftauchen, untertauchen. Pochen, Pulsieren, Glucksen.
    Einmal war er mit seinem Vater auf dem Balkon ihrer Wohnung in Baltimore. Unten auf dem Hinterhof spielte seine Schwester Judith mit anderen Mädchen. Dad hob ein Modellflugzeug hoch, eine Supermarine Spitfire, und sagte: »Das war der Stolz der Royal Air Force zwischen 1936 und 1954.«
    Und ein andermal stand er als Zwölfjähriger am Grab seines Vaters. Eine Hand schloss sich um seine, und als er aufblickte, sah er Dads geliebte Züge im gelben Licht leuchten. Er strich ihm durchs Haar und sagte: »Ich glaube an dich, Davy.« Und er sagte: »Alles was du festhältst, verlierst du, und alles was du loslässt, behältst du…«
    Auftauchen, untertauchen. Stimmen, Bilder. Gelbliches Licht, nichts, gelbliches Licht. Wunderbarer Wechsel, stiller Puls des Lebens.
    Die Zeit stand, die Zeit strömte vorbei, die Zeit vergaß ihn…
    Und eines Tages tauchte er auf und nicht mehr unter. Verschwommene menschliche Gestalten versammelten sich vor der durchsichtigen Wand jenseits des gelben Lichtes. Etwas straffte sich unter seinen Achseln, eine Kraft zog ihn hoch. Er wollte sie abschütteln, wollte wieder untertauchen. Die Kraft ließ ihn nicht los. Sie zog ihn einfach aus dem gelben Licht. Er fühlte Wut auf die unnachgiebige Kraft.
    Das Pochen hörte auf, Wasser plätscherte, etwas wurde aus seinem Hals gezogen. Er hustete, sog die Luft ein zum ersten Mal seit so langer Zeit. Er riss die Augen weit auf. Männer waren um ihn herum. Auf einem Sessel saß das blaugraue Wesen, ernst und mit stillem Erbarmen in den fremdartigen Augen.
    Die Zeit strömte nicht mehr an Dave McKenzie vorbei. Sie packte ihn und zerrte ihn wieder mit sich…
    ***
    Willenlos ließ Dave sich abtrocknen und sich seine Kleider überstreifen. Jemand schnürte ihm die Stiefel zu, jemand schnallte ihm die Uhr um das Handgelenk, jemand setzte ihm die Brille auf.
    Sie verfrachteten ihn in einen Sessel. Als sie ihn losließen, sank sein Kopf in den Nacken bis auf die Kante der Sessellehne. Tief atmete er durch. Er spürte seinen Körper kaum. Den Arm zu heben und sich das Haar aus dem Gesicht zu streichen kostete Kraft. Viel zu viel Kraft.
    »Die Muskeln haben ein bisschen nachgelassen, Mac«, sagte eine tonlose Stimme. Dave zwang sich den Kopf von der Sessellehne zu heben. Black stand vor ihm. »Nicht weiter schlimm das gibt sich mit der Zeit.«
    Langsam, ganz langsam drehte Dave den Kopf ein wenig. Neben Black stand der Mann in dem roten Overall. Er war nervös, trat von einem Bein auf das andere, nagte auf seiner Unterlippe herum. Er trug eine Brille…
    Dave kniff die Augen zusammen und riss sie wieder auf. Tatsächlich der Mann trug eine Brille, eine Brille wie seine. Auch langes Haar trug der Mann. Gestern waren seine Haare noch kürzer gewesen, ganz bestimmt. Oder vorgestern… oder vor drei Wochen… oder vor zwei Jahren?
    Dave drückte Daumen und Zeigefinger gegen seine Augäpfel und sah noch einmal hin.
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