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032

Titel: 032
Autoren: Die Seiltänzerin
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Halt zu finden, konnte sie sich mit den Zehenspitzen nicht fest genug abstützen, hatte indes auch nicht den Mut, ganz loszulassen und in die Tiefe zu fallen.
    Dann war ein Schrei zu hören, dem etliche Schreie folgten. Im Nu malte sie sich aus, wie eine Hand nach ihrem Handgelenk griff und sie hochgezogen wurde. Würde man sie aus Wut über den Ärger, den sie durch ihre Flucht erzeugt hatte, auf die Spitzen der Palisade spießen? Verglichen mit diesem Schreck war der Gedanke, vom Wehrgang zu fallen, längst nicht so fürchterlich. Einen Herzschlag lang war sie starr vor Angst. Dann erinnerte sie sich ihrer langen Ausbildung, und da sie gelernt hatte, sich fallen zu lassen, ohne von jemandem aufgefangen zu werden, machte sie sich vollkommen schlaff.
    Der Spielmann Telor und der Zwerg Deri waren in Goat-acre von den Dörflern gewarnt worden, in der Umgebung der benachbarten Veste sei es zu Gefechten gekommen. Eine Woche zuvor hatte der Burgherr Männer bei den Dorfbewohnern einquartiert. Die Truppen waren erst an dem Tag, an dem Telor in Goatacre eingeritten war, zurückgerufen worden. Telor hatte den Leuten ehrlich gedankt und ihnen zum Ausgleich für ein Mahl und einen Schlafplatz einige Lieder vorgesungen.
    Sie hatten ihm gern zugehört, denn jede Form der Unterhaltung war willkommen, indes sie Deris übermütige Streiche, derbe Scherze und unverschämte Bemerkungen über Telors wunderbaren Vortrag mehr genossen. Kunterbunt angezogen, schien Deri he-rumzutorkeln, über die eigenen Füße zu stolpern, jeden falschen Schritt in wildes Radschlagen und groteskes Wanken zu verwandeln. Zwischen den akrobatischen Kunststücken verzerrte er das hübsche Gesicht zu verrückten Grimassen, so dass seine kecken Schmähungen und dreisten Anzüglichkeiten eher wie das zufällige Gestammel eines Narren wirkten. Telor unterstützte die Wirkung stets noch durch einige misstönige Akkorde und falsch gespielte Noten, die Deris Getorkel begleiteten, gab oft laute, resignierend klingende Seufzer von sich, machte ein entsetztes Gesicht oder bedeckte es in gespielter Beschämung über die Bemerkungen seines Begleiters mit den Händen. Schließlich wedelte er hilflos mit den Händen, als könne er das Getue nicht länger ertragen und bedeute Deri, damit aufzuhören.
    Diese Geste hatte unweigerlich immer den gegenteiligen Effekt. Deri gab vor, aufgeregt zu Telor zu rennen, und rief ihm zu: „Du willst etwas von mir, Herr? Mein lieber Herr, ich komme! Ich komme!" Diese harmlos klingenden Worte wurden jedoch von einem so zweideutigen Grinsen begleitet, dass die obszöne Bedeutung nicht missverstanden werden konnte. Telor machte dann ein wütendes Gesicht. Deri erreichte ihn jedoch nicht, sondern schlug etliche Purzelbäume, wobei er weitere anzügliche Äußerungen von sich gab. Telor hob schließlich den langen, eisenbewehrten Bauernspieß und schrie Deri zu, er solle den Mund halten. In offenkundigem Entsetzen fiel der Zwerg dann zu Boden. Telor ergriff ihn am Arm, zog ihn hoch und hielt ihn an sich gepresst, damit er still war. Zu guter Letzt entschuldigte er sich immer bei den guten Leuten dafür, dass sein Zwerg sie beleidigt hatte, und damit war die Vorführung beendet.
    Er und Deri bekamen stets etwas zu essen und einen Schlafplatz. Manchmal wurden sie auch in das Haus eines Dörflers eingeladen. In wohlhabenderen Gemeinden erhielten sie gelegentlich sogar eine Silbermünze. Es kam öfter vor, dass Telor ein langes, gerades Stück Holz oder eine Darmsaite bekam. An langen Abenden im Frühling und im Sommer bearbeitete er es dann, bis unter seinen geschickten Händen ein schönes neues Musikinstrument entstanden war. Wenn Deri und er in eine große Stadt kamen, verkaufte er das Instrument, falls er Geld brauchte, aber im Allgemeinen verschafften sie beide sich sogar in den Städten durch ihre Fähigkeiten Unterkunft und Essen.
    In den Dörfern wurden ihnen meist nur Schuppen zum Übernachten angeboten.
    Selbst die Leibeigenen missachteten und misstrauten den fahrenden Jongleuren, die sangen, tanzten und sie auf andere Weise belustigten, jedoch keinen festen Platz im Leben hatten und keinen Beschützer, und daher zur Zielscheibe des allgemeinen Hohnes wurden. Natürlich hatten die Leibeigenen gute Gründe für ihr Misstrauen, da die Jongleure bei Diebstählen nicht minder geschickt waren als bei ihren Darbietungen.
    Telor hätte eine Stufe höher auf der gesellschaftlichen Leiter gestanden, wäre er nicht mit Deri zusammen gewesen.
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