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032

Titel: 032
Autoren: Die Seiltänzerin
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Versorgungsbauten nicht noch ein weiteres Mal durchsucht wurden. Aber dort, wo sie sich befand, konnte sie sich nicht verstecken. Ihr Kleid würde sie verraten, so dass sie nicht vorgeben konnte, eine Leibeigene zu sein, um dann, wenn die Zugbrücke am nächsten Tag heruntergelassen war, entkommen zu können.
    Wieder rannen ihr Tränen über die Wangen, doch sie zwang sich, nicht zu schluchzen. Der einzige Fluchtweg war der über die Palisade. Wenn ein Seil da wäre . . . Aber sie hatte keins, und es gab auch keine Möglichkeit, eins zu finden.
    Carys begriff, dass sie springen musste. Sie wusste, wie sie sich fallen lassen musste, doch das Seil, auf dem sie bei Dorffesten balancierte, war selten höher als zehn oder fünfzehn Fuß über der Erde gespannt. Die Palisade war viel höher, vielleicht zwanzig Fuß hoch, und der Graben davor noch einmal zwanzig Fuß tief. Carys erschauerte.
    Die Männer würden sie fallen hören, herausstürzen und sie packen, derweil sie noch halb benommen dalag. Rücken und Hüften taten ihr weh, und die Abschürfungen, die sie sich beim Sprung aus dem Fenster zugezogen hatten, brannten. Wie viel stärkere Schmerzen würde sie nach einem so tiefen Fall haben?
    Einen Moment lang betastete sie die Dolche und fragte sich, ob sie sich durch einen tödlichen Stich noch mehr Angst und Schmerzen ersparen solle. Derweil sie noch daran dachte, ihrem Leben ein rasches Ende zu bereiten, beobachtete sie das Licht der Fackeln, durch das die Bewegungen der Männer im Hof zu erkennen waren.
    Angestrengt lauschte sie, ob sie hören könne, dass Schritte sich ihr näherten.
    Niemand kam in ihre Nähe. Niemand schaute in ihre Richtung. Keine Fackel wurde herangetragen. Sie starrte die flackernden Lichter an und dachte an eine glücklichere Zeit, als Fackeln und Stimmen den Beginn des Spiels bedeutet hatten.
    Die Auftritte hatten sie immer glücklich gestimmt. Sie hatte sich immer gefreut, wenn sie wunderbare, mit glitzernden Juwelen besetzte Gewänder hatte tragen und gemessenen Schritts auf die Bühne hatte gehen können, mit hoher Stimme in dem flötenden Ton und mit der Ausdrucksweise sprechend, die bei einer hoch stehenden Dame angebracht zu sein schienen. Es war ohne Bedeutung, dass der Stoff des Gewandes rau war, die Juwelen nur aus glitzernden Glassplittern bestanden und sie statt in Französisch in der Landessprache redete, damit die Dörfler, die unterhalten werden sollten, sie auch verstanden. Es war auch unwichtig, dass die hoch stehende Dame verspottet, verlacht und zur Zielscheibe boshafter Bemerkungen gemacht wurde. Wichtig waren nur die Aufregung, die von vielen Fackeln strahlend hell erleuchtete Bühne und die Freude, die der tiefe Fall der hochmütigen edlen Dame den Zuschauern brachte. Wie die Leute lachten! Das war die einzige Rache, die sie an ihren Herren nehmen konnten, und sie genossen sie zutiefst.
    Zu der Zeit, ehe Morgan einen Menschen zu viel zum Narren gehalten hatte, war jeder Tag voller kleiner Freuden gewesen. Sobald Carys sich aus ihren Decken gewickelt hatte, war sie losgerannt, um die Akrobaten zu wecken. Manchmal hatte sie eine falsche Person ausgewählt, von der sie dann getreten und verwünscht worden war. Aber der eine oder andere von der Truppe hatte ihr das Seil zum Üben an einer abgeschiedenen Stelle gespannt, derweil sie sich wusch und sich die Zähne mit einem zersplitterten Zweig reinigte. Oder sie war, wenn sie sich in einer Scheune befunden hatte, wo die richtigen Dachsparren gewesen waren, an den Pfosten hochgeklettert und hatte dort geübt. Üben stand an erster Stelle, immer üben, bis sie schweißnass war und die Muskeln ihr wehtaten. Die Kunst basierte darauf, dass das Üben härter war als der vorzuführende Balanceakt.
    Und dann das Morgenmahl. Zu der Zeit, als es der Truppe am besten ergangen war, hatte es immer genug zu essen gegeben, abgesehen von einem Tag hier oder dort, wo man zwischen zwei Städten oder Burgen festgesessen hatte und auf der Straße schlafen musste. Das gute, heiße und reichhaltige Essen war von Dirnen zubereitet worden, die kamen und gingen, keine besonderen Talente hatten und nur zum Kochen, Nähen und Beischlaf mit den Männern taugten. Wenn sie Morgan gelangweilt oder sich beklagt hatten, waren sie von ihm vertrieben worden.
    Neun Leute. In der Truppe hatte es neun Leute gegeben, die von Bedeutung gewesen waren. An erster Stelle hatte Morgan gestanden. Er hatte seine Messerwerfer-Vorstellung mit der am besten aussehenden
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