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02 - Die ungleichen Schwestern

02 - Die ungleichen Schwestern

Titel: 02 - Die ungleichen Schwestern
Autoren: Marion Chesney
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wußte jeder, der in der großen Welt zu
Hause war, dass man ein Haus bereits zwei Monate vor und mindestens einen Monat
über die Saison hinaus mietete. Die Saison begann Ende April und dauerte bis
Ende Juni, wo der Großteil der erschöpften Gesellschaft dem Prince of Wales
nach Brighton folgte.
    Mr.
John Rainbird, der Butler von Haus Nummer 67, stand auf den Eingangsstufen und
starrte düster in die infernalische Finsternis vor dem Haus. Das Leben hatte in
der letzten Saison so vielversprechend ausgesehen. Die Mieter waren so
freigiebig gewesen, dass Rainbird schon geplant hatte, ein kleines Gasthaus in
Highgate zu kaufen und seine »Familie« - die übrige Dienerschaft -mitzunehmen.
Aber während sie alle auf Fiona Sinclairs Hochzeit waren, war ihr Geld
gestohlen worden. Sie hatten ausnahmslos Jonas Palmer verdächtigt, doch sie
hatten keinen Beweis. Deshalb waren sie, statt sich eines Lebens in Freiheit
und Unabhängigkeit zu erfreuen, nach wie vor an das Stadthaus gekettet -
so wie die Eisenhunde zu Rainbirds Füßen an die Stufen gekettet waren.
    Der
lange Krieg gegen Napoleon wütete weiter, ein Vierpfundbrot kostete einen
Shilling und neun Pence, und täglich verhungerten arme Leute buchstäblich auf
der Straße. Die Diener, die sich mit Müh und Not über Wasser halten konnten,
machten alle erdenklichen Nahrungsquellen ausfindig. Heute Morgen erst war
Angus MacGregor, der Koch aus dem schottischen Hochland, aufs Land bei
Kensington gegangen, um nach Feuerholz zu suchen; Mrs. Middleton, die
Haushälterin, hatte all ihren Mut zusammengenommen und war auf den Covent
Garden-Markt gegangen, um zu sehen, ob sie dort etwas Gemüse auftreiben
konnte i und die kleine Lizzie, die für die Stiegen und den Abwasch zuständig
war, war beim Bäcker, um zu sehen, ob es einen Laib altbackenes Brot zu kaufen
gab.
    Das
Stubenmädchen Jenny und das Hausmädchen Alice waren im Haus und putzten und
polierten lustlos die leeren Räume, denn Jonas Palmer liebte überraschende
Besuche und pflegte mit weißen Baumwollhandschuhen von Zimmer zu Zimmer zu
gehen und über alle Kanten zu streichen, um sich zu vergewissern, dass auch
nirgends ein Stäubchen lag.
    Rainbird
seufzte, und ein kalter Schauer überlief ihn. Joseph, der hochgewachsene Lakai,
kam die Außentreppe herauf und blieb neben ihm stehen. Die beiden Männer
schauten schweigend in die schleichenden Nebelschwaden. Joseph war groß, blond
und gutaussehend, seine runden blauen Augen waren von dünnen hellen Wimpern
umgeben, die sein stiller Kummer waren. Rainbird war viel kleiner als Joseph
und hatte den sehnigen Körperbau eines Akrobaten und das Gesicht eines -
Komödianten. Er hatte kluge, funkelnde graue Augen, die gewöhnlich gute Laune
ausstrahlten, aber in letzter Zeit so lustlos und traurig wie das Wetter waren.
    Eine
große Schneeflocke fiel langsam kreisend vom Himmel und landete auf Josephs
Nase. Er wischte sie weg. »Zum Teufel mit dem Wetter«, sagte er affektiert mit
seiner hohen Stimme. »Es schlägt einem ja aufs Gemüt.«
    »Vielleicht
würdest du dich nicht so schlecht fühlen, wenn du dich dazu aufraffen könntest,
etwas zu tun«, sagte Rainbird in schneidendem Ton. »Hast du das Silber schon
geputzt?«
    »Nein«,
antwortete Joseph schmollend. »Ich hab's satt, das verdammte Zeug für nichts
und wieder nichts zu putzen.«
    »Dann
mach es jetzt«, befahl Rainbird ärgerlich. »Denk daran, dass wir beide noch
schlechter als die anderen dran sind, wenn uns Palmer mal wieder auf dem Kieker
haben sollte.«
    Die
zwei Männer hatten wegen Vorfällen, für die sie nichts konnten, Häuser der
guten Gesellschaft verlassen müssen. Aber sie waren schuldig gesprochen worden,
und Palmer drohte ihnen ständig, die Sache an die große Glocke zu hängen, wenn
sie nicht aufs Wort gehorchten; es würde bedeuten, dass keiner von ihnen je
wieder hoffen dürfte, eine Stellung zu finden.
    Vielleicht
war es das geteilte Leid, das Rainbird den verweichlichten und oft launenhaften
Lakaien ertragen ließ. Rainbird war vermutlich auch der einzige Mensch, der den
empfindsamen, sensiblen Kern, der unter dem gekünstelten Getue verborgen war,
erkannte.
    »Dave
tut auch nichts«, gab Joseph weinerlich zurück.
    »Dave
kehrt die Kamine.«
    »Das
wird auch gut sein«, spottete Joseph, »schließlich ist es das einzige, was er
kann.«
    Dave
war Kaminkehrerjunge gewesen, bevor ihn Rainbird vor seinem rücksichtslos
harten Meister gerettet hatte. Palmer wußte nicht, dass er im Haus lebte.
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