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010 - Die Bestie mit den Bluthänden

010 - Die Bestie mit den Bluthänden

Titel: 010 - Die Bestie mit den Bluthänden
Autoren: Larry Brent
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Dr. Sandos stand an dem
breiten Fenster seines Arbeitszimmers und hielt einen Feldstecher an die Augen,
mit dem er die Szene beobachtete, die sich knapp einen Kilometer von ihm
entfernt abspielte.
    Dort, an der steinernen Brücke, war ein Menschenauflauf. Er wusste, was
geschehen war. Heute Morgen hatte er es als einer der ersten erfahren. Der
Junge, der Milch und Brötchen ins Haus brachte, hatte auch die Neuigkeit aus
dem Dorf erzählt.
    Sandos schluckte. Er fuhr zusammen, als er plötzlich die Stimme hinter sich
hörte. Wie von einer Tarantel gestochen wirbelte er herum und riss den
Feldstecher förmlich von seinen Augen.
    Nicole, seine Sekretärin, Vorzimmerdame und sein lebendes Notizbuch, stand
vor ihm. »Ich habe angeklopft, dreimal, Doktor«, sagte sie leise. »Sie haben
mich nicht gehört.« Sie hatte eine dunkle, sympathische Stimme, die zu ihrem
vorteilhaften Äußeren passte.
    Dr. Sandos nickte abwesend. Er fuhr sich mit einer nervösen Bewegung über
die Stirn. »Nein, ich habe Sie nicht gehört. Ich war in Gedanken versunken –
und ich habe mir die Ereignisse drüben an der Brücke mit dem Fernglas näher
angesehen«, fügte er etwas leiser werdend hinzu, als sei es ihm unangenehm,
dies einzugestehen. Andererseits aber brachte er es nicht fertig, diese Sache
einfach zu übergehen. Nicole hatte ihn überrascht, und das weckte ein gewisses
Unbehagen in ihm.
    »Sie hatten mich heute Morgen gebeten, um neun Uhr einen Brief aufzunehmen.
Sie wollten mir das Antwortschreiben für Mister Henk diktieren, Doktor.« Nicole
stand noch immer unbeweglich auf der Stelle. Sie trug ein weißes, kurzes
Wickelkleid, das zwei Handbreit über ihren wohlgeformten, gebräunten Schenkeln
endete.
    Nicole stammte aus Rostrenen. Sie arbeitete sechs Tage bei Dr. Sandos und
fuhr nur samstags in die Nachbarstadt zurück. Im Haus des Psychologen war für
sie ein kleines Zimmer eingerichtet.
    Dr. Sandos seufzte. »Richtig. Das hätte ich fast vergessen!« Er ging um den
Schreibtisch herum, auf dem einige Plastikhefter lagen. Müde ließ er sich in
den dickgepolsterten Sitz fallen und schob achtlos einen der Hefter zur Seite.
    »Sie sollten ein paar Tage ausspannen, Doktor«, meinte die junge Französin,
während sie auf einem der bereitstehenden Stühle Platz nahm, wirkungsvoll die
Beine übereinanderschlug und es nicht für nötig hielt, das hochgerutschte Kleid
zurechtzuziehen. »Sie sehen in der letzten Zeit sehr müde aus. Ich habe Sie
auch heute Nacht wieder gehört. Sie arbeiten zu viel und zu lange. Es geht noch
eine Zeitlang gut, aber dann kommt mit Sicherheit der Tag, wo Sie nicht mehr
nur für Ihre Patienten da sind. Dann müssen Sie sich selbst behandeln. Sie sind
überarbeitet. Denken Sie auch mal an sich!«
    Dr. Sandos nickte. »Sie haben ja recht, Nicole. Aber ich kann nicht über
meinen eigenen Schatten springen. Ich bin nicht nur Psychologe, ich bin auch
Forscher. Ich will die besten Erkenntnisse, die ich gewinne, meinen Patienten
zugute kommen lassen. Nicht umsonst hat meine Praxis den Ruf, den sie genießt.
Aber ich sollte wirklich wieder einmal ausspannen, einen Besuch in Rostrenen
unternehmen, mit Ihnen ein Kabarett oder ein Theater besuchen – was halten Sie
davon?« Er lebte mit einem Mal förmlich auf, sein bleiches, hageres Gesicht
rötete sich.
    Nicole lachte leise. »Warum nicht, aber Sie begeistern sich schnell für
eine Sache und führen Sie nachher doch nicht durch. Ich erinnere mich, dass Sie
mir bereits vor einem halben Jahr einen solchen Vorschlag gemacht hatten.
Wollten Sie da nicht auch schon ein Theater besuchen?«
    Dr. Sandos fuhr sich durch die dichten, blauschwarzen Haare. »Wie recht Sie
haben! Ich glaube, Sie sollten mich immer wieder erinnern, jeden Tag, bis ich
wirklich …« Er sprach nicht zu Ende, sondern winkte ab, während er nach dem
Zigarettenspender auf seinem Schreibtisch griff, Nicole eines der weißen
Stäbchen anbot und sich dann selbst eines zwischen die Lippen steckte. Er
zündete die Zigaretten an. »Waren Sie gestern Abend außer Haus?« fragte er
unvermittelt nach dem ersten Zug.
    Ihre dunklen, großen Augen erwiderten still seinen Blick. In dieser Sekunde
wurde Dr. Sandos wieder von dem überzeugt, was er eigentlich schon lange
wusste: Wie schön Nicole war. Und ihre Augen sprachen davon, dass sie mehr
geben konnte als nur ein gutes Diktat, als ihn zu erinnern und seine
Korrespondenz zu erledigen. Sie war für die Liebe geschaffen, blutjung, erst
vierundzwanzig, und sie
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