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01 Jesses Maria: Kulturschock

01 Jesses Maria: Kulturschock

Titel: 01 Jesses Maria: Kulturschock
Autoren: Carla Berling
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warum? So ein Quatsch. Das Gedicht ist zu Ende. Die Leute klatschen. Einer ruft: „Bravo!“ Bravo? Ob das Kunst war? Ich klatsche vorsichtshalber auch. „Wir machen zwanzig Minuten Pause“, sagen Rattenträger und Nickelbrille im Chor. Die Leute gehen rüber in die Bierstube.
    „Ich hol mir erst mal ein schönes Pils“, sagt einer. So ein Prolet. Ich bestelle mir Rotwein. Ich finde, das gehört bei Lesungen dazu. Auch wenn die Gedichte komisch sind. Während ich auf den Wein warte, beobachte ich die Leute.
    Die beiden Künstler stehen an einem Tisch, auf dem viele Bücher aufgestapelt sind. Rattenträger hat eine Geldkassette aus blauem Metall vor sich. Einige der Gäste versammeln sich drum herum und blättern in den Werken. Ich nehme meinen Wein, schlendere hinüber, das will ich mir auch ansehen.
    Komische Bücher! Sehen aus wie selbst gebastelt. Die Krügers haben natürlich gleich drei gekauft. Ich sehe, dass sie sich von den Künstlern Autogramme reinschreiben lassen. So ein Quatsch. Was hat man denn davon, wenn einer seinen Wilhelm da reinschreibt? Und nicht mal in Schönschrift, man kann das gar nicht lesen. Schön sind die Bücher schon, alle in flaschengrün und auf allen steht drauf: EDITION HÖCKENSCHNIEDER & BRANDOFEN. Aber richtige Bücher sind das eigentlich gar nicht, sehen aus wie geheftete Din-A-vier-Blätter. Sind nicht mal Taschenbücher. Meine Konsaliks habe ich alle als Taschenbücher gekauft, die sind nicht so teuer und man kann sie im Bett besser halten. Ich schaue eins aus der Edition Höckenschnieder und Brandofen genauer an. Es hat den Titel: OHR-GASMI-SCHE SKIZZEN. Ach du grüne Neune! Und: Orgasmus wird doch nicht mit H geschrieben! Ach so, die meinen das Ohr, „ohrgasmisch“, jetzt verstehe ich, das ist gar nicht so doof.
    Achtundzwanzigneunzig! Das ist unverschämt teuer, quasi sechsundfünfzig Mark, denke ich und sage das auch zu Rattenträger. Der schaut mich milde lächelnd an und sagt:
    „Aber ich bitte Sie, all diese Werke sind handgefertigte Unikate, durchnummeriert und handsigniert. Und das Papier, sehen Sie hier, das Papier, es hat eine ganz besondere Qualität, weil es je nach Lichteinfall diese fantastischen Strukturen schimmern lässt.“
    Ich sage: „Wenn ich für ein geheftetes Büchlein achtundzwanzigneunzig bezahlen soll, dann will ichmindestens vergoldete Heftklammern darin haben.“ Rattenträger guckt beleidigt und sagt: „Vielleicht ist dieses Buch mit unseren Fotoarbeiten eher interessant für Sie?“ Er schiebt mir ein rotes Fotoalbum hin. EINGÜSSE steht in Goldschrift drauf. Ich schlage es auf.
    Großaufnahme: Aus einer Packung fließt Milch in ein Glas. Nächste Seite: Aus einer Kanne fließt Kaffee in eine Tasse. Nächste Seite: Aus einer Flasche fließt Bier in ein Glas. Ich schaue Rattenträger verständnislos an. Er lächelt und sagt:
    „Eingüsse! Auch die banalen, nur vordergründig irrelevanten Details in unserem Alltag formulieren in ihrem täglichen Gebrauch eine gewisse Poesie, die wir mit diesen Fotografien konservieren wollten.“
    Hä? Ich blättere weiter. Wasser aus Schlauch in Planschbecken. Limonade aus Flasche in Glas. Wasser aus Wasserhahn in Badewanne. Tee aus Kanne in Schale. Wein aus Karaffe in Glas. Schnaps aus Flasche in kleines Glas. Wasser aus Gießkanne in Blumenkasten. Also, das ist ja wohl nicht wahr!
    Die haben einen Pinkelstrahl über einer Kloschüssel fotografiert! Ich schlage das Plastikfotoalbum entrüstet zu. „Fünfundsechzig Euro“ steht fett auf dem Preisschild auf der Rückseite. Ich schnappe nach Luft und starre Rattenträger an. Der hat gesehen, bei welchem Bild ich das Album zugeklappt habe. Er lächelt wieder und sagt: „Auch solche Eingüsse unterliegen biologischer Unerlässlichkeit, sind daher universell, weil ach so menschlich, und auch sie verdienen sehr wohl die uneingeschränkte Wachsamkeit des Publikums!“
    Ich winke Tante Grete zu.
    Ich will gehen, sie soll mitkommen. Sie greift eilig nach ihrer Handtasche, ich bin schon in der Tür. „Komm, Tante Grete“, rufe ich. „Das hier ist Abzockerei, das lasse ich mir nicht bieten. So ein Blödsinn.“ „Aber Kind“, sagt Tante Grete, „es hat ja nicht mal Eintritt gekostet, wir können doch noch bleiben. Ist jedenfalls besser als Fernsehen.“
    Nein. Ich habe kein Mitleid. Ich gehe nach Hause. Und da lese ich meinen Konsalik.

Goldhochzeit
    Tante Grete und Onkel Kurt haben bald Goldene Hochzeit. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen:
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