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01 Jesses Maria: Kulturschock

01 Jesses Maria: Kulturschock

Titel: 01 Jesses Maria: Kulturschock
Autoren: Carla Berling
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wollen Sie lieber Tee? Ist alles da, müssen Sie nur sagen.“
    Sie nimmt Kaffee.
    „Mutter, nun hol doch Kaffee und Kekse, wo bist du nur wieder mit deinen Gedanken.“ Onkel Kurt kneift die Lippen zusammen und schüttelt den Kopf. Ich finde das schrecklich, dass die beiden sich mit „Mutter“ und „Vatter“ anreden, hätte Manni je „Mutter“ oder „Mutti“ zu mir gesagt, hätte ich das Nudelholz gezückt.
    Tante Grete geht in die Küche. Um die Fransen der Perserbrücken macht sie einen Bogen. Onkel Kurt setzt sich in den Ledersessel und drückt einen Knopf an der Armstütze. Die Sessellehne surrt einige Zentimeter zurück. „Habe ich von meinen Töchtern zum Siebzigsten bekommen, den Sessel. Teures Ding, das können Sie mir glauben“, sagt er. Die Frau von der Zeitung nickt, offenbar glaubt sie ihm.
    Die Uhr tickt. Aus der Küche höre ich Geschirr klappern. Die Frau holt einen Block und einen Stift aus ihrer Handtasche. Jetzt geht es los mit dem Interview. Irgendwann muss sie ja mal anfangen. „Sie haben vor fünfzig Jahren geheiratet. Sie wissen ja, dass wir über Paare, die goldene Hochzeit feiern, gern einen kleinen Artikel schreiben“, sagt sie.
    „Schreiben Sie nur, schreiben Sie nur, wir haben nichts zu verbergen“, sagt Onkel Kurt. Tante Grete kommt miteinem Tablett herein.
    „Ach Mutter, warum hast du denn nicht das gute Geschirr genommen? Das hier doch nicht! Geh mal und hol von dem Indisch blau.“
    Tante Grete schaut ihn an und geht wortlos zurück in die Küche. Sie macht wieder einen Bogen um die Perserfransen.
    Wir trinken Kaffee aus indisch blauer Tasse. Die Kekse sind von Aldi.
    „Wann haben Sie sich kennen gelernt?“, fragt die Frau. „Neunzehnhundertfünfzig“, sagt Onkel Kurt.
    „Nein, Vatter, das stimmt doch gar nicht, es war einundfünfzig“, berichtigt Tante Grete.
    Onkel Kurt guckt böse. „Neunzehnhundertundfünfzig kam ich aus der Gefangenschaft und wurde ins Krankenhaus am Birkenweg gebracht!“, ruft er. Tante Grete sagt zu der Zeitungsfrau: „Jetzt fragen Sie bloß nicht weiter nach, sonst erzählt er Ihnen die ganze Geschichte von Russland.“
    Um Himmels Willen. Wer Onkel Kurt kennt, kennt auch die Russland-Geschichten. „Du hast doch nichts mitgemacht! Ich war schwer verwundet in Russland und das Frollein hat es sich hier gut gehen lassen“, sagt Onkel Kurt zu der Reporterin. „Sie kommt vom Bauernhof, wissen Sie, die haben doch nie Hunger kennen gelernt! Die Bauern hatten immer zu fressen, weil sie untereinander gekungelt haben. Aber wir, als der Russe uns damals gefangen hielt ...“
    Tante Grete fällt ihm ins Wort: „Vatter, ich wünsche nicht, dass du vor der Frau so redest! Und morgen stehtdas in der Zeitung, du bist doch nicht bei Trost!“
    Zu der Frau sagt sie: „Ich wollte sowieso nicht, dass Sie herkommen, wir wollen gar nicht in die Zeitung.“ Tante Grete ist heute wirklich ein bisschen kiebig. Kann doch die Frau nichts dafür, dass sie solange durchgehalten hat.
    „Natürlich muss das in die Zeitung! Was du immer redest. Siekers und Niedermeiers waren auch in der Zeitung, als sie Goldene hatten, das ist nun mal so. Schreiben Sie ruhig mit, junge Frau, wir haben hier nichts zu verbergen.“ Die Zeitungsfrau lächelt gequält und versucht es anders. „Wann sind Sie geboren, Frau Sauer?“
    Sie notiert ihr Alter.
    „Waren Sie berufstätig?“ Onkel Kurt antwortet für Tante Grete: „Das hatte meine Frau nicht nötig! Wir hatten immer ein gut gehendes Geschäft, da brauchte sie nicht bei fremden Leuten arbeiten zu gehen!“ Tante Grete ruft: „Ich hab nicht gearbeitet? Und wer hat das Haus und den Garten in Ordnung gehalten und die Kinder groß gezogen? Du hattest doch nur Zeit fürs Geschäft! Und wer hat dir die Buchhaltung gemacht und im Laden geputzt? Das war doch wohl ich, oder wer?“ Da hat sie Recht, denke ich. Onkel Kurt wird komisch: „Ach, wolltest du etwa eine Putzfrau auch noch haben? Du hattest doch den ganzen Tag Zeit, dich um alles zu kümmern.“
    „Und du hast hier keinen Handschlag getan, alles musste ich alleine machen. Und die Kinder haben dich auch nicht interessiert, nur wenn sie was ausgefressenhatten, warst du da!“ Jetzt schluchzt Tante Grete, zieht ein weißes Taschentuch aus ihrem Blusenärmel und schnäuzt laut. Sie sagt zu der Frau: „Das schreiben Sie aber nicht, oder? Ich wollte nicht, dass Sie kommen.“
    Die Frau sagt: „Ich schreibe nichts, was die Leute nichts angeht. Aber es wäre doch auch für
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