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01 Jesses Maria: Kulturschock

01 Jesses Maria: Kulturschock

Titel: 01 Jesses Maria: Kulturschock
Autoren: Carla Berling
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Fünfzig Jahre Ehe. Da hast du keine Chance mehr auf was Neues, wenn es gar nicht mehr läuft. Fünfzig Jahre immer mit demselben. Jedenfalls offiziell. Frauen wie Tante Grete mussten durchhalten, denn so wie heute konnten sie sich über eine Ehe nicht sanieren. Das klingt bösartig, aber mal angenommen, meine Mutter hätte sich scheiden lassen wollen. Dann hätte bei uns auf dem Dorf niemand mehr mit ihr geredet. Mit einer Geschiedenen sprach nämlich keiner. Damals gab’s noch das Schuldprinzip. Das bedeutete zum Beispiel: Wenn der Mann fremdgegangen war, dann hatte er getan, was ein Mann tun musste. Und dann hatte die Frau ihre ehelichen Pflichten nicht erfüllt und wurde schuldig geschieden. Wer schuldig geschieden war, bekam die Kinder nicht zugesprochen. Oder nur Alimente für die Kinder und nichts für sich. Das ist heute anders. Man kriegt so eine Art Jahresprämie. Pro Jahr Ehe soundsoviel Unterhalt. Wenn man also lange durchhält, kann sich das richtig lohnen. Die Kinder bleiben auch heute noch fast immer bei den Frauen, die Frauen kriegen Unterhalt für sich und die Kinder und Wohngeld dazu, und wenn der Mann nicht zahlen kann, zahlt der Staat. Da kann man sich ruhig scheiden lassen, keine ist mehr geächtet, sondern jede hat eine neue Chance. Und weil in der Regel der Papa alle zwei Wochen die Kinderhat, kann man jedes zweite Wochenende wie ein Single auf die Piste gehen und nach Frischfleisch suchen.
    So eine Chance hat Tante Grete nie gehabt. Sie rief mich an und bat mich, dabei zu sein, wenn die Frau von der Zeitung kommt. Wenn Leute Goldene Hochzeit haben, gibt’s im Tagblatt immer einen Artikel mit Bild. Ich lese das gerne. Ich bin gespannt, wie die Reporterin so ist.
    „Eigentlich wollte ich nicht, dass Sie kommen. Unser Leben muss nicht in der Zeitung breit getreten werden“, sagt Tante Grete zu der Reporterin gleich an der Haustür. Mit einer Kopfbewegung fordert sie die Frau auf, herein zu kommen. Ich sitze im Wohnzimmer und kann sie durch die offene Tür sehen.
    Es ist düster in der Diele. Tante Grete hat das alte Bauernhaus von ihren Eltern geerbt und Onkel Kurt hat es umgebaut.
    „Meine Ponderosa“, nennt er es immer. Das Zimmer, in dem Tante Grete geboren wurde, ist heute das Ehe-Schlafzimmer. Die niedrigen Decken, dunkle Eichentüren, das wär nichts für mich. Hier riecht es immer nach Putzmitteln, Socken und Eintopf.
    „Wir gehen ins Wohnzimmer“, sagt Tante Grete und kommt mit der Reporterin herein. Obwohl hier sowieso immer alles supersauber ist, weiß ich, dass sie wegen der Frau von der Zeitung eine Woche lang geputzt hat. Die helle Auslegware hat sie im Quadrat staubgesaugt, man sieht es an den Spuren im Velours. Die Fransen der rotbunten Perserbrücken liegen Faden für Faden nebeneinander. Die Falten der weißen Gardinen sindfestgesteckt, in der Mitte der Fensterbank steht ein rosa Alpenveilchen im Messingtopf.
    Eine Uhr tickt. Sonst ist es ganz still.
    Ich weiß gar nicht, ob es hier schon mal anders aussah? Die Möbel und Teppiche sind wie neu, aber solange ich denken kann, stehen sie genau an diesen Stellen im Zimmer. Sogar das Alpenveilchen scheint seit fünfzig Jahren an seinem Platz zu blühen.
    Die Frau von der Zeitung und Tante Grete setzen sich in die dunkelgrünen Samtsessel.
    Ich gebe ihr nur kurz die Hand, sage, dass ich Maria Jesse heiße und dass Tante Grete meine Nenn-Tante ist, gar nicht meine richtige Tante, dass ich irgendwie aber zur Familie gehöre und dass sie mich gar nicht beachten soll, ich setz mich in die Essecke und bin quasi gar nicht da.
    Ich gucke ein bisschen durch den Raum, macht man ja sonst nicht so. Auf dem Kacheltisch liegen die Fernsehzeitung und eine Fernbedienung. In den Regalen der Schrankwand stehen gerahmte Fotos, ein Porzellanklo mit rosa Seidenblumen und ein Porzellanschwan mit weißen Seidenblumen. Pieksauber alles, nicht ein Stäubchen irgendwo. Hier würde das Ölgemälde vom röhrenden Hirschen gut passen, aber Tante Grete und Onkel Kurt haben die Zwiebelturmkirche am See. Tante Grete sieht adrett aus: Die graue Dauerwelle ist frisch gewickelt und sitzt wie ein Helm, die weiße Bluse ist faltenlos. Zum dunklen Rock trägt Tante Grete Hausschuhe.
    „Mein Mann kommt gleich“, sagt sie in dem Moment,als Onkel Kurt eintritt. Er trägt zum weißen Hemd die gute Krawatte und auch Hausschuhe.
    „Mutter, nun biete der Frau doch mal ’ne Tasse Kaffee an“, sagt Onkel Kurt, während er der Frau kräftig die Hand schüttelt. „Oder
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