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01 Jesses Maria: Kulturschock

01 Jesses Maria: Kulturschock

Titel: 01 Jesses Maria: Kulturschock
Autoren: Carla Berling
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verstand die Lage sofort, er kannte Manni seit Jahren. „Ja, Herr Doktor, das ist früh genug. Vielen Dank, dann bis nachher.“ Ich legte auf, lauschte einen Moment und hörte die Sprungfedern quietschen.
    Ich kannte Manni gut genug um zu wissen, dass er aufrecht im Bett gesessen und mit Dumbo-Ohren gelauscht hatte.
    Im Schlafzimmer roch es nach ungeputzten Zähnen, verbrauchter Luft und Achselschweiß. Ich sah ihn an. Er war wirklich blass um die Nase und sein Blick flackerte. „Mit wem hast du telefoniert?“ „Das hast du doch gehört, mit dem Arzt. So schlecht wie es dir geht, hatte ich keine andere Wahl, oder?“ Jetzt wurde er rot.
    Dann sagte ich: „Tja. Was muss, das muss.“
    Er schnappte nach Luft. Ich zog die Augenbrauen hoch, besser gesagt, nur die linke, das hatte ich geübt und ich wusste, dass es streng und klug aussah. Dann blickte ich wortlos aus dem Fenster und tat nachdenklich.
    Zwei Stunden später klingelte es und Dr. Kutscher war endlich da. Wir flüsterten im Flur und ich war froh, dass der alte Herr sofort wusste, was zu tun war. Eruntersuchte Manni sehr sorgfältig. Er hörte die Brust ab, ließ ihn ein- und ausatmen, legte das Stethoskop auf dem Rücken an, tastete hinter den Ohren und unter den Armen nach den Lymphknoten. Dann musste Manni sich auf die Bettkante setzen und Dr. Kutscher prüfte mit einem kleinen Hämmerchen an Mannis Knie die Reflexe. Einwandfrei. Er fühlte den Puls, ließ sich die Zunge zeigen und Manni langgezogen „A“ sagen. Langsam und umständlich packte der Doktor dann seine Sachen in die Tasche zurück. Manni hatte totale Panik in den Augen. Hach, hab ich das genossen.
    Er strich die Bettdecke glatt und nestelte nach einem Taschentuch. Er schnäuzte sich umständlich und laut. Nachdem er sich geräuspert hatte, sagte Manni: „Und? Herr Doktor, bitte sagen Sie mir die Wahrheit. Ich bin stark, ich kann alles ertragen, aber die Wahrheit muss es sein.“
    Dr. Kutscher ließ sich mit der Antwort wirklich Zeit. Manni schwitzte. „Nun, mein lieber Herr Jesse.“ Pause. Mannis Lippe zitterte. Er senkte den Kopf, so richtig schön in sein Schicksal ergeben. Ich konnte sehen, dass er langsam eine Glatze bekam, eine klassische Tonsur würde das eines Tages sein. Sonst sah ich das nicht, weil er größer ist als ich. Manni hauchte: „Bitte, Herr Doktor!“ Er flehte richtig. Wunderbar. „Sie haben eine akute Rhinitis, mein Lieber“, sagte der Arzt. „Und … was … heißt das?“ „Schnupfen. Herr Jesse, Sie haben Schnupfen.

Lesung im Hochzeitszimmer
    Immerhin sind ungefähr dreißig Leute gekommen. Das ist gar nicht schlecht fürs erste Mal. Wir sind im Hochzeitszimmer in Niedermeiers Hof. Hier feiern sie auch Beerdigungen, Taufen und Konfirmationen. An den Wänden hängen kleine Geweihe und große Strohblumensträuße. Die Einrichtung ist aus Eiche.
    Tante Grete und ich sitzen auf einer Eckbank am Fenster. Es ist noch ein bisschen unruhig. Füße scharren, leise Gespräche, Räuspern, Thekengeräusche aus der Bierstube nebenan. Wir warten darauf, dass die Lesung endlich beginnt.
    Nicht jeden Tag sind Schriftsteller in unserem Ort, das ist hier etwas Besonderes. Deshalb konnte ich auch Tante Grete überreden, mitzukommen. Sie geht eigentlich nicht zu Lesungen.
    „Ach Kind, da versteh ich doch nix von“, sagt sie normalerweise, wenn man ihr mit Kultur kommt. Aber ich habe sie beruhigt: „Es kommen zwei Autoren aus Niederbecksen-Mitte, die sind noch nicht berühmt und deshalb dichten sie bestimmt noch ganz normal.“
    Ich habe Tante Grete den Zeitungsartikel aus dem Westfälischen Tagblatt gezeigt: „Gedanken und Geschichten von Karl-Ludwig Brandofen und Gert Höckenschnieder“ Es stand auch ein Bild der Dichter in der Zeitung. Ich schätze, die sind so ungefähr in meinem Alter. Das kann man sich doch mal anhören. Kost‘ ja nix.
    Da. Das ist einer der Künstler. Erkenne ich sofort am Bart und der Nickelbrille auf der Nasenspitze. Brille tragen die Intellektuellen ja alle. Und das muss der andere Autor sein.
    Meine Güte, der hat ja ne Pelzjacke an. Bei dem Wetter. Plötzlich ist es ruhig im Saal. Am Tisch neben uns sitzen die Krügers mit ihren drei Kindern. Die machen dauernd auf Kultur. Alle Kinder gehen aufs Gymnasium. Als hätten wir nicht schon genug arbeitslose Akademiker.
    Es kommen noch zwei Nachzügler. Setzen sich auf die letzen beiden freien Plätze. Ich kenne die Leute nicht. Aus dem Ort sind die jedenfalls nicht.
    Die Dichter haben sich in
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