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01 Jesses Maria: Kulturschock

01 Jesses Maria: Kulturschock

Titel: 01 Jesses Maria: Kulturschock
Autoren: Carla Berling
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die beiden Clubsessel neben der Stehlampe gesetzt. Einer rechts, einer links, in der Mitte die Lampe mit plissierten Pergamentschirm. Was das wohl für‘n Pelz ist? Tante Grete tippt auf Kaninchen, aber ich denke, es ist eher Bisamwamme. „Bisam ist Ratte, und Wamme ist Bauch!“, sagt Tante Grete. Oh. Rattenbauch. Dann ist es wohl doch Kaninchenfell, ich kann mir nicht vorstellen, dass ein richtiger Dichter Ratte trägt.
    Jetzt geht‘s los. Die Schriftsteller sind aufgestanden und die Leute klatschen. Ich klatsche erst nach der Lesung. Woll‘n wir erst mal sehen, ob die überhaupt Applaus verdienen. Jetzt sitzt der eine wieder. Der mit dem Rattenpelz. Der mit der Nickelbrille steht und wischt sich die Hände an der Hosennaht ab. Aha, sind wir ein bisschen nervös?
    „Liebe Gäste“, sagt er mit leicht schnarrender Stimme.Dann hält er eine Rede über die Dichtung. Im Allgemeinen. Nach zehn Minuten geht er auf die Dichtung im Besonderen ein. Erzählt von Leuten, die ich nicht kenne. Die Namen Dehmel und Benn habe ich mitbekommen, eine Frau Kirsche oder so ähnlich sei auch ganz berühmt und sein Vorbild ist irgendein Araber. Den Namen habe ich nicht verstanden, er kommt jedenfalls aus dem Diwan. Westöstlicher Diwan.
    (Und ich dachte immer, ein Diwan sei ein Sofa und kein Land.)
    Jetzt steht Rattenträger auf. Im gleichen Moment setzt sich Nickelbrille. Ich muss lachen, wie die Stehaufmännchen. Rattenträger räuspert sich und sagt: „Wir beginnen.“
    Alle klatschen. Ich nicht. Er schiebt sich die Pelzärmel hoch und breitet die Arme aus. Ist wohl doch zu warm.
    „WIR BEGINNEN“, schreit er so laut, dass Tante Grete neben mir zusammenzuckt. Dann holt er tief Luft und flüstert: „Einen jeden Tag, als seien wir von Sinnen.“
    In diesem Moment springt Nickelbrille auf und Rattenträger setzt sich hin. Nickelbrille schreit:
    „WIR BEENDEN!“, dann wispert er: „Einen jeden Abend mit Feuer in den Lenden.“ Setzt sich.
    Rattenträger springt wieder hoch, Nickelbrille setzt sich. „Feuer in den Lenden!“, prustet eins von den Krügerkindern los und kriegt einen Lachkrampf. Böse Blicke in Richtung Krügers, so geht man doch nicht mit Kultur um! Frau Krüger legt den Zeigefinger an die Lippen, das Kind soll ruhig sein, kann es aber nicht, es lacht und lacht. Frau Krüger muss selber lachen,kann sich aber zusammenreißen. Gott sei Dank. Wo kommen wir hin, wenn jeder lacht, wenn‘s gar nicht lustig ist. Die beiden Stehaufmännchen springen weiter abwechselnd auf und ab. Aber jetzt schreien sie nicht mehr, jetzt reden sie normal. Der, der steht, sagt einen Satz und setzt sich, dann steht der andere auf und sagt einen Satz, der sich auf den vorigen reimt. Das ist schon Kunst. Ich könnte das jedenfalls nicht.
    Jetzt kommt Musik. Nickelbrille kündigt an: „Wir freuen uns nun auf die beiden Schülerinnen der Erich-Kästner-Gesamtschule: Lara-Apollonia Gerdsmeier, vierzehn Jahre alt, Gesang, und Jule-Alexis Brömmel, dreizehn Jahre alt, Blockflöte.“ Eins der Krügerkinder lacht schon wieder: „Jule mit Blödflöte“, sagt der Kleine. Ich gucke ihn streng an und schüttele den Kopf. So was sagt man nicht. Der Bengel reagiert nicht. Arrogantes Pack.
    Ach, die Musik kenne ich, das ist ein Stück von den Beatles. „Hey Jude, lalala ...“ Klingt mit Flöte aber ziemlich blutarm. Und die Sängerin quiekt ein bisschen. Na ja, sind ja noch Kinder. Diesmal klatsche ich auch. Man darf den Kleinen nicht den Mut nehmen. Wer weiß, was aus denen mal wird. Vielleicht sind sie eines Tages so berühmt wie André Rieu oder Wolfgang Petri und dann kann man sagen: „Die hab ich schon als Kind gekannt.“ Jetzt sind wieder die Stehaufmännchen an der Reihe.
    Hinten links sitzt eine Frau im hellen Kostüm. Sie hat den Kopf schief gelegt und die Augen geschlossen. Meine Güte, die wird doch nicht eingeschlafen sein? Ach nein, jetzt klatscht sie. Ein Gedicht ist zu Ende. Dasnächste beginnt. Die Frau im Kostüm schließt wieder die Augen. Ach so, sie konzentriert sich. Ich versuche das auch und komme mir bescheuert vor. Also gucke ich wieder hin. Nickelbrille ist an der Reihe. Er liest aus einem grünen Heft vor.
    „Wir bohren einen Tunnel durch die Zeit.
    Und schwimmen Sonne.
    Atmen Hauch.
    Die Mutter schreit.
    Die Höhe zweifelt noch.“
    Das verstehe ich nicht, es reimt sich ja nicht mal. Außerdem fehlen Wörter in den Sätzen. Schwimmen Sonne, atmen Hauch. Was soll denn das bedeuten? Und welche Mutter schreit und
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