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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee
Autoren: Stefanie Zweig
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Rosenrondell angelegt werden.
    »Darf ich jetzt raus?«, rief das gelangweilte Kind. Weil es sich in der fremden Umgebung noch nicht auskannte, jammerte es versehentlich in Richtung des elterlichen Schlafzimmers.
    »Nein, nicht bis Josepha Zeit hat, dich zu begleiten«, entschied die Mutter. Sie klapperte kurz mit der Kuchenform. »Du weißt doch hier überhaupt nicht Bescheid, Junge. Das fehlt mir noch, dass du gleich am ersten Tag verloren gehst.«
    »Josepha«, begehrte der schniefende Rebell auf, »weiß hier doch auch nicht Bescheid. Und mich«, fügte er in einem Anfall von Trotz hinzu, von dem sein Vater mindestens einmal am Tag sagte, der müsse dem Buben schleunigst ausgetrieben werden, »kennt die Josepha auch nicht. Kein bisschen nicht.«
    Otto trug nicht zufällig den Namen des Reichsgründers. Sein Vater verehrte Bismarck noch mehr als sämtliche drei deutschen Kaiser. Dass der kleine Otto mit seinen knapp vier Jahren sehr eigensinnig und ein wenig verzogen war, galt vorerst als typische Bubenkrankheit. Hermine, die väterliche Großtante aus Oberhessen, die als unangenehm direkt und ein wenig roh galt, hatte bei ihrem letzten Besuch im Sommer prophezeit: »Der wird sich noch wundern, der kleine Teufel.« Wie so oft hatte die Entwicklung ihr im Nachhinein recht gegeben. Wenn Gott seinen Eltern wohlwollte, würde Otto in vier Monaten die Liebe von Vater und Mutter teilen müssen. Noch war der Kronprinz ahnungslos. Es galt in guten Kreisen als unschicklich, mit Kindern, besonders mit den Söhnen, vom Zustand einer Mutter in guter Hoffnung zu sprechen.
    »Warum«, versuchte es Otto zum zweiten Mal, »darf ich nicht mit denen Kindern da draußen spielen?« Er hatte den Weg in die Küche gefunden und versperrte nun, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, den Weg zum Backofen.
    »Darum«, fasste seine Mutter zusammen. Mit einer Hand schob sie ihren Sohn aus dem Weg. »Man sagt nicht denen Kindern. Wo hast du so was bloß her?«
    Es war höchste Zeit, Otto Wilhelm Samuel Sternberg klarzumachen, dass auch kleine Kinder gesellschaftliche Spielregeln zu beachten hatten. Hausmeisters Söhne und Kutschers Kinder fielen nach Frau Betsys Dafürhalten für ihren Erstgeborenen, der ja nun in einer Fünfzimmerwohnung mit zwei Balkons logierte und der künftig auch wochentags Matrosenanzüge tragen würde, nicht länger in die Klasse der Akzeptierten. Für die Sternbergs galt es, nach neuen Spielkameraden für ihren Augapfel Ausschau zu halten.
    »Sage mir, mit wem du umgehst, und ich sage dir, wer du bist«, murmelte die vorausschauende Mutter über Ottos Kopf hinweg.
    Am Sandweg im Frankfurter Ostend, wo er zur Welt gekommen war, war man nicht heikel gewesen. Dort trafen sich die Frauen zum Schwatz auf der Straße und die Männer zum Schoppen. Kinder waren wie junge Hunde zu behandeln. Man ließ sie gewähren und schlug zu, wenn sie nicht sofort parierten, doch die Kleinen mussten sich nicht um gesellschaftliche Konventionen scheren. Sie durften auf der Straße spielen, und sie durften sich aussuchen, mit wem sie es taten. Klein Otto hatte im Ostend das Leben ausschließlich von der unbeschwerten Seite kennengelernt. Wer ihn babbeln hörte, zweifelte nicht, dass er ein Frankfurter Bub war, und zwar einer, der sich nichts vormachen ließ. Wenn er mit dem Karlchen aus dem Baumweg und dem Heiner von der Ingolstädter Straße Ball gespielt hatte, bebten die Scheiben und jubelten die Herzen. Keiner der Erwachsenen redete von Manieren oder Tradition. Die Mütter von Ottos Freunden besorgten für feine Leute die große Wäsche, die Väter waren vor der Geburt ihrer Söhne verschwunden. In den kleinen Wohnungen roch es nach Kohl und Mehlsuppe, und am Samstagabend wurde man von Kopf bis Fuß abgeschrubbt, in einer kleinen Zinkwanne, die auf einem Stuhl in der Küche stand.
    »Heute ist der Tag der Wende«, verkündete Ottos Vater am Morgen des Umzugs. Das breite Ehebett aus Eiche, der Esstisch samt Stühlen und Vertiko, Ottos Bett und Schaukelpferd, der weiß lackierte Kinderschrank, die Kommoden mit den gedrechselten Beinen, zwei Couchtische mit Marmorplatte und Löwenfüßen, Bücher, Bilder und der Regulator, der jede halbe und jede volle Stunde schlug, wurden auf einen riesigen Wagen geladen. Die Schlafzimmermöbel, die Kücheneinrichtung, das Geschirr und die wuchtigen Ohrensessel samt den Kisten mit Kleidung kamen auf einen zweiten. Die kräftigen Zugpferde wieherten. Passanten blieben stehen, eine Frau in blauer
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