0095 - Yama, der Totengott
durften weiterziehen.
Wieder kamen beschwerliche Wege, schwindelnde Abgründe, Lawinengefahr. Wieder kamen bleierne Glieder, Durst und Atembeschwerden. Zamorra und Bill Fleming verloren den Sinn für Entfernungen, denn es ging nicht in gerader Linie vorwärts, sondern in gewundenen Schlangenlinien, je nachdem wie es das unwegsame Berg- und Talgelände erlaubte.
Aber alles hat einmal ein Ende. Nach zwei Tagen und zwei Nächten, in denen sie sich kaum eine Rast gönnten, war das Ziel endlich erreicht.
Düster wie eine mittelalterliche Trutzburg, am Berg klebend wie ein überdimensionales Vogelnest, lag das Schlangenkloster der Tschöd-Lamas vor ihnen.
***
Und wieder wurde Nicole in einen Keller gesperrt. Diesmal jedoch nicht in einen aus Mauersteinen und Beton.
Ihr neues Gefängnis war mehr ein Verlies, dessen Wände aus massivem Fels bestanden.
Bevor sie von finster blickenden Männern in nachtschwarzen, sackartigen Gewändern in das Loch gesteckt wurde, bekam sie Verpflegung. Wasser, etwas säuerlich Schmeckendes, bei dem es sich um Ziegenkäse handeln mochte, einen undefinierbaren Brotfladen, mehr nicht. Sie war allerdings so ausgehungert, dass sie glaubte, niemals etwas Besseres gegessen zu haben.
Obgleich sie diesmal nicht gefesselt wurde, und ihr Kerker durch eine unsichtbare Lichtquelle beleuchtet wurde, hätte sie doch liebend gerne sofort wieder mit ihrem ersten Gefängnis getauscht.
Dieses Felsenloch, ließ ihr die Haare zu Berge stehen. Namenloses Grauen hing in der Luft, so intensiv, dass sie es beinahe körperlich zu spüren glaubte. Immer wieder, war ihr, als würden schemenhafte Gestalten um sie herumtanzen, als würden die rätselhaften, gespenstischen Zeichen, die die Wände wie ein Tapetenmuster bedeckten, aus dem Fels hervortreten und über sie herfallen.
Sie war fast erleichtert, als sich die schwere Bohlentür des Verlieses nach einiger Zeit öffnete, die Schwarzkittel eine menschliche Gestalt in den Raum stießen - und die Tür dann wieder zuschlugen.
Die menschliche Gestalt war Edgar Birch. Lächerlicherweise trug er noch immer sein Tennisdress. Er sah schlecht aus, schmal im Gesicht und erschöpft. Aber er war wieder bei Bewusstsein.
Nicole war ihm behilflich, sich vom Boden aufzurichten, auf den ihn die rohen Kerkermeister geschleudert hatten. Eigentlich aber war ihre Hilfe überflüssig, denn dem äußeren Anschein zum Trotz schien er körperlich noch völlig okay zu sein.
Er stellte sich auf die Füße, beobachtete Nicole zuerst gar nicht, sondern blickte sich nur mit großer Konzentration in der Felsenzelle um. Dann schloss er die Augen und stand da wie versteinert. Seine Mundwinkel zitterten leicht, und an den Schläfen traten Adern hervor. Nach wenigen Sekunden entspannte er sich jedoch wieder. Dabei gab er ein enttäuscht klingendes Ächzen von sich.
Endlich wandte er sich an Nicole, die sein bisheriges Tun mit einiger Verwunderung beobachtet hatte.
»Tut mir leid, dass Sie in diese bedauerliche Lage geraten sind«, sagte er.
Nicoles Verwunderung wuchs. Birch hatte ganz ruhig gesprochen, beinahe gleichmütig. Von der Unsicherheit, die er auf der Terrasse des Country Clubs gezeigt hatte, war nichts mehr zu spüren. Er schien ein ganz neuer Mensch geworden zu sein. Nicole verstand das nicht so ganz, ließ sich ihre Verblüffung aber nicht anmerken.
»Mister Birch, können Sie mir verraten, was das alles zu bedeuten hat?«, fragte sie so sachlich wie möglich. »Diese Asiaten, diese Gewaltakte, dieser Spuk…«
»Ja«, antwortete der Millionärssohn, »das kann ich Ihnen verraten, Miss…, ich kenne nicht einmal Ihren Namen.«
»Duval, Nicole Duval. Sie wissen also, was hier gespielt wird, Mister Birch?«
»Es fangt damit an, dass ich nicht eigentlich Birch heiße. Mein richtiger Name lautet Tsang-po-khad-Idlan.«
»Was reden Sie da?«, rief Nicole erstaunt aus. »Tsang-po Dingsda - das ist doch ein tibetischer Name!«
»So ist es«, bestätigte der junge Mann.
Und dann erzählte er Nicole, dass er tatsächlich der Großabt eines tibetischen Klosters sei und den Titel Tschöd-po-Lama trage, dass er ständig wiedergeboren würde und dass Edgar Birch lediglich seine letzte Inkarnation sei.
Nicole schluckte. Es fiel ihr schwer, zu glauben, was der Mann da erzählte, und doch begriff sie gefühlsmäßig, dass er die volle Wahrheit sprach.
»Da haben Sie also achtzehn Jahre als Millionärssohn in Amerika gelebt, obgleich sie wussten, dass Sie tatsächlich ein tibetischer
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