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0095 - Yama, der Totengott

0095 - Yama, der Totengott

Titel: 0095 - Yama, der Totengott
Autoren: Hans Wolf Sommer
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Tschöd.
    Jeder von ihnen führte zwei meterlange Schlangen, die vorher mit Öl eingerieben worden waren, in die Nasenlöcher ein und zog sie zum Mund wieder heraus. Andere Priester schlugen Tamburins und Schädeltrommeln, schwangen die geweihten Glöckchen und handhabten Donnerkeil und magischen Dolch.
    Blo-lugs-pa nahm die Orakelknochen zur Hand und ließ seine Gedanken zum Bardo wandern, dem transzendentalen Bereich der Abgeschiedenen, in das nun auch der Tschöd-po-Lama vorübergehend eingekehrt war.
    Ein Geshe, der gleichfalls die elfte Tschöd-Prüfung abgelegt hatte, ließ den flehenden Ruf der Trompete aus menschlichen Schenkelknochen erschallen. Das Trompetensignal überwand die Grenze zwischen den Welten und öffnete die Pforte des Bardo.
    Blo-lugs-pa warf die Orakelknochen. Sie fielen nicht zu Boden, sondern verwandelten sich mitten in der Luft in eine strahlende Lichtwolke. Aus dem Lichterkranz schälte sich ein Gesicht heraus, das verklärte Gesicht des Tschöd-po-Lama.
    Der tote Meister lächelte nicht, er sah äußerst ernst aus. Schwermut und Traurigkeit prägten seine würdevollen Züge. Aus unendlich tiefen, dunklen Augen blickte er die Mönche des Schlangenklosters an.
    »Meister, sag uns…«, setzte Blo-lugs-pla hoffnungsvoll an, kam aber nicht weiter.
    So schnell wie das Gesicht des Großabts erschienen war, verschwand es auch wieder. Es löste sich auf in zahllose Lichtwirbel, die wie irrsinnig hin- und hertanzten, sich schließlich aber wieder zusammenfanden und abermals Gestalt annahmen. Ein Vogel bildete sich heran, ein kleiner gelber Vogel, der aufgeregt mit den Flügeln schlug und davonzufliegen versuchte.
    Aber der Vogel konnte nicht davonfliegen, denn auf einmal entstand aus den Lichtwirbeln eine zweite Gestalt - eine Schlange. Die Schlange riss den Rachen auf, entblößte pfeilspitze, leicht gekrümmte Giftzähne. Sie schnappte nach dem kleinen gelben Vogel, packte ihn, verschlang ihn. Sekundenlang war der Lichterkranz von den kalten, gnadenlosen Augen des Reptils ausgefüllt. Dann wurde das Bild wieder formlos und chaotisch.
    Noch einmal fügten sich die Lichtwirbel zu erkennbaren Formen zusammen. Schriftzeichen stiegen wie Rauchschwaden aus dem Lichterkranz hervor, trieben durch die Orakelgruft und schlugen sich an einer der Felswände nieder.
    Ein Satz wurde lesbar: DER JUNGE BAUM BRICHT IM DRITTEN JAHR!
    Fast eine Minute hingen die Schriftzeichen pulsierend an der Wand. Dann flossen sie ineinander, strömten zu ihrer Ausgangsquelle zurück, wurden wieder eins mit dem Lichterkranz.
    Dieser wurde schwächer, verlor an Leuchtkraft, entschwand schließlich ganz den Blicken der Schlangenmönche.
    Plötzlich waren wieder die Orakelknochen da, die durch die Luft flogen und auf den Felsboden fielen. Das Orakel war zu Ende.
    Stumm blickten sich die Geshe an. Enttäuschung zeichnete sich in ihren Gesichtern ab. Die Weissagung war sehr vage, sehr nebulös gewesen. Sie alle ahnten, warum sich ihnen der Tschöd-po-Lama nicht klarer mitgeteilt hatte: er wollte es ihnen schwer machen, wollte nicht, dass sie ihn auf Anhieb fanden.
    Blo-lugs-pa seufzte innerlich. Es würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als einen erneuten Versuch zu unternehmen, die zwölfte Tschad-Prüfung abzulegen.
    Aber er war sich schon jetzt sicher, dass er dabei dem fürchterlichen Yama zum Opfer fallen würde.
    ***
    Neunundvierzig Tage später:
    Henry Birch war nervös. Er, der es gewohnt war, bei schwierigsten Finanztransaktionen und knochenharten Geschäftsverhandlungen niemals Ruhe und Überblick zu verlieren, konnte seine Nerven kaum noch im Zaum halten. Teufel auch, wenn es nur gut ging!
    Wie ein Tiger im Käfig ging er vor der Schlafzimmertür auf und ab. Immer wieder blickte er fahrig auf seine Uhr. Länger als eine Viertelstunde war Doktor Bishop jetzt schon bei Catherine drin. Verdammt lange für eine reine Routineuntersuchung. Bestimmt war etwas nicht in Ordnung!
    Birch wollte gerade, den Ratschlägen des Arztes zuwiderhandelnd, das Schlafzimmer betreten, als sich die Tür öffnete und Bishop herauskam.
    Der Arzt lächelte. »Henry! Habe ich Ihnen nicht vorgeschlagen, ganz einfach ins Büro zu fahren?«, sagte er und schloss die Tür hinter sich. »Wenn Sie so weitermachen, wird ihr Werk binnen kurzem pleite sein.«
    Unwillig winkte Birch ab. »So schnell sind Birch Industries nicht pleite. Wie geht es Catherine?«
    »Ihrer Frau geht es hervorragend, Henry. Es besteht überhaupt keine Veranlassung zur
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