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0039 - Turm der Verlorenen

0039 - Turm der Verlorenen

Titel: 0039 - Turm der Verlorenen
Autoren: Michael Kubiak
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traurigen Anblick los und folgte endlich seiner Führerin. Diese zerrte ihn mit unwiderstehlicher Gewalt hinter sich her. Die Schar der Verlorenen eilte durch die Gänge und Verliese des Schlosses. Sie verursachten keinerlei Geräusch. Einzig die Schritte Zamorras hallten durch die Gänge und eilten ihm voraus.
    Nun kehrte auch für den Professor die Erinnerung zurück. Er war vor nicht allzu langer Zeit schon einmal hier gewesen, nämlich als ihn die beiden Flugungeheuer des untoten Wissenschaftlers in den Rittersaal geschleift hatten. Zamorra wusste nun, dass er bald wieder da stehen würde, wo er das Schloss betreten hatte.
    Er hatte sich nicht geirrt. Eine lange Wendeltreppe – und über ihm wölbte sich der unendliche Himmel, an dessen samtener Schwärze ein Meer von Sternen blinkte. Kein Lüftchen regte sich. Es war, als würde die Natur den Atem anhalten.
    Tief unter ihm lag das Dörfchen Valice, in dem sein unheimliches Abenteuer angefangen hatte. Jetzt regte sich dort unten nichts. Kein Licht blinkte auf, und alles lag ausgestorben und tot.
    Zamorra fragte sich, wie er wohl einen Weg nach unten finden konnte. Er hatte schon den Eindruck, als würde der Turm, auf dem er stand, schon leise schwanken. Die ganze Zeit über war das Grollen und Dröhnen aus dem Innern des Berges zu ihm durchgedrungen. Dieses Geräusch überlagerte alles, sein Denken und zum Glück auch seine Angst.
    Zamorra schaute fragend und flehend zu Zora hinüber, die sich zu den ihren gesellt hatte. Die alten Leute standen in einer Gruppe an der Brüstung und schienen sich zu beraten. Anscheinend waren sie sich darüber unschlüssig, was sie tun sollten. Dann schienen sie einen Entschluss gefasst zu haben.
    Sie wichen auseinander und bildeten einen Halbkreis. Die Gesichter hatten sie alle in Richtung auf das Dorf unten im Tal gewendet.
    Dann fassten sie sich an den Händen wie Kinder, die sich zu einem Reigentanz aufstellen. Nur waren es keine Kinder, und die Gesichter der Alten trugen nicht den Ausdruck der Unbeschwertheit und Lebensfreude. Sie hatten zulange gelitten, hatten zuviel sehen und durchstehen müssen. In ihnen brannte nur eine Sehnsucht – endlich die Ewige Ruhe zu erlangen.
    Zamorra wagte nicht, sich bemerkbar zu machen. Was vor seinen Augen geschah, war so fantastisch, so unglaublich und überwältigend, dass er sich unsagbar klein vorkam.
    Die alten Menschen, die aus längst versunkenen Jahrhunderten und Kulturen stammten, verbanden ihre Gedanken zu einem Strahl, den sie auf einen Punkt, auf eine Sache ausrichteten. Sie bildeten ein einziges Bewusstsein, dessen Bestreben es war, dem zu danken, der ihm die Freiheit wiedergegeben hatte. Sie alle wollten sich erkenntlich zeigen, für das, was ihnen geschenkt worden war.
    Ein kaum wahrnehmbares Singen lag plötzlich in der Luft. Es umhüllte den Turm mit den Menschen wie ein weiter Mantel. Aus jeder Richtung wurde es herangetragen und wieder fortgeweht. Nach und nach wurde das Singen immer lauter. Gleichzeitig geriet die Luft in Bewegung. Ein Wirbel bildete sich und zerrte an den Kleidern der befreiten Menschen.
    Ein geheimnisvolles Lichtflimmern umwogte den Turm, nahm fest umrissene Konturen an und formte die Lichttreppe, die Zamorra bereits hatte beobachten können. Nur war sie dieses Mal für ihn bestimmt.
    Er konnte seine Dankbarkeit nicht ausdrücken, so überwältigte ihn dieses Gefühl. Doch er durfte keine Zeit verlieren. Zora trat zu ihm und nahm wieder seine Hand. Vertrauensvoll folgte er ihr auf die Mauerzinne und wagte mutig den Schritt ins Leere. Kein Schwindelgefühl erfasste ihn. Er empfand es sogar als selbstverständlich, wie auf Wolken dem Erdboden entgegenzueilen. Zora schwebte neben ihm her und leitete ihn sicher bis hinunter auf den Talgrund.
    Als Zamorra wieder festen Boden unter den Füßen spürte, ließ sie ihn los. Sie beugte sich vor, und Zamorra spürte, wie sie ihm einen Kuss auf die Wange hauchte. Dann war sie plötzlich nicht mehr da.
    Zamorra blickte sich suchend um und gewahrte sie als transparente Lichtwolke, die wieder hinaufschwebte zur Mauerzinne des Felsenschlosses.
    Dann verblassten die Konturen der Lichttreppe. Sie zerflossen und verwehten in einem plötzlich aufkommenden Wind. Der Gesang wuchs an zu einem triumphierenden Crescendo, und Zamorra konnte sehen, wie über der Burg eine Lichtwolke schwebte und langsam in die Höhe stieg. Es war der Chor der Verlorenen, der ihm einen letzten Gruß übermittelte, um die Reise anzutreten in eine
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