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002 - Der Hexenmeister

002 - Der Hexenmeister

Titel: 002 - Der Hexenmeister
Autoren: B.R. Bruss
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merkwürdig sprach. So redete doch heutzutage kein Mensch mehr.
    Alles Weitere spielte sich in völligem Schweigen ab. Im Licht der Fackeln sah ich, dass ich mit einer Art Hemd aus grobem Leinen bekleidet war und dazu eine kurze schwarze Kniehose trug.
    Einer der Mönche trat auf mich zu. Er streifte mir ein langes Gewand aus Sackleinwand über, das mir bis zu den Füßen reichte. Ein anderer Mönch setzte mir eine Kopfbedeckung auf, die aus Papier zu sein schien, denn sie war sehr leicht. Ihre Form hatte ich nicht gesehen, denn der Mönch war von hinten an mich herangetreten. Dann wurde mir eine Art Plakat auf der Brust befestigt. Ich konnte nicht erkennen, ob es eine Aufschrift trug. Der rotgekleidete Riese fesselte mir die Hände auf dem Rücken.
    »Los jetzt!« befahl er dann.
    Die Mönche gingen als erste hinaus. Sie sprachen irgendwelche Litaneien. Zwei Soldaten mit Hellebarden schritten rechts und links von mir, der Riese und seine zwei Helfer schlossen den Zug. So verließen wir meine Zelle.
    Jetzt wusste ich, wohin man mich führte und warum. Ich war nahe daran, vor Schreck laut aufzuschreien, doch kein Laut kam über meine Lippen. Es war wie in einem Alptraum, wenn man vor Entsetzen laut schreien will, ohne dass es einem gelingt.
    Wir gingen durch einen langen Gang mit gewölbter Decke, stiegen eine steinerne Wendeltreppe hinauf durchquerten einen weiteren Gang und traten schließlich in hellen Sonnenschein hinaus.
    Im ersten Augenblick war ich wie geblendet.. Noch nie hatte ich so lebendig geträumt, mit so klaren, intensiven Farben. Alles war genauso, wie es im Leben, bei hellem Bewusstsein ist. Ich hätte geschworen, dass ich nicht träumte, sondern alles wirklich erlebte. Aber das konnte doch nicht sein.
    Im ersten Augenblick wusste ich nicht, wo wir uns befanden. Dann erkannte ich am anderen Flussufer die Türme von Notre-Dame.
    Es war das einzige Bauwerk, das so aussah wie heute. Alle übrigen Gebäude und auch die Menschen und Fahrzeuge, die ich sah, waren ganz anders. Das Straßenbild erinnerte mich an die Darstellungen auf alten Gemälden und Zeichnungen aus dem Mittelalter.
    Unser Zug ging zwischen Spalieren von Zuschauern hindurch. Händler, Handwerker, Arbeiter, Bettler, Marktweiber und elegante Damen und Herren in einer Mode, die man schon seit Jahrhunderten nicht mehr trug, betrachteten uns neugierig.
    Wir gingen über die Brücke von Notre-Dame. Auch sie sah ganz anders aus als heute, denn es standen Läden darauf. An allen Fenstern der Häuser drängten sich Zuschauer, die auf uns herabsahen.
    Jetzt erreichten wir den Platz vor Notre-Dame. Auf der einen Seite befand sich eine hölzerne Tribüne, auf der prächtig gekleidete Würdenträger, Adelige und auch einige Kirchenfürsten saßen.
    Und dann erblickte ich den Scheiterhaufen.
    Er war vor der Tribüne in der Mitte des großen Platzes errichtet. Unser Zug hatte ihn bald erreicht. Ich war so verwirrt, dass ich gar nicht hörte, was einer der Würdenträger aus einem Dokument vorlas. Er hatte sich dazu erhoben. Sein Gesicht war lang und mager, seine Miene wirkte kalt und hart. Seine Worte drangen nur wie ein entferntes Rauschen an mein Ohr. Doch dann hörte ich deutlich, wie er das über mich gefällte Urteil verlas. Ich wurde dazu verurteilt, bei lebendigem Leibe verbrannt zu werden – heute, am 6. Juni 1408.
    Während er sprach, hatte auf dem Platz völlige Stille geherrscht. Als er fertig war, packte mich Entsetzen, und ich schrie laut:
    »Das ist ein Irrtum! Das bin doch nicht ich! Hören Sie, ich habe doch nichts verbrochen! Ich bin unschuldig.«
    Aber als der Henker seine riesige Pranke auf meine Schulter legte – denn kein anderer war der große, rotgekleidete Kerl –, wusste ich, dass kein Irrtum geschehen war. Ich war wirklich der Schuldige, der hier verbrannt werden sollte – bei lebendigem Leibe.
    Ich kannte sogar einige der Würdenträger auf der Tribüne und hätte ihre Namen nennen können. Ich wusste, dass es vier Uhr nachmittags war und dass ich in wenigen Minuten sterben würde – auf die grauenhafteste Weise.
    Der Henker ergriff mich, als wäre ich leicht wie eine Feder, und stellte mich auf den Scheiterhaufen. Die Henkersknechte packten meine Arme und banden mich an dem Pfahl fest, der aus dem Reisig aufragte. Vor mir erhob sich die prächtige Fassage von Notre-Dame, dieser schönsten aller Pariser Kirchen.
    Als zu meinen Füßen die ersten Flammen emporzüngelten, erhob sich triumphierendes Geschrei in der Menge, die
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