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Zwölfender

Zwölfender

Titel: Zwölfender
Autoren: Britta Schröder
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war gewinnend, fröhlich und ziemlich sorglos. Was sie auch anfing: Es gelang ihr. Sie studierte, las viel und sprach viel. Vor zwei Jahren jedoch wurde sie von Woche zu Woche stiller. Eines Abends kam sie von der Uni nach Hause, wirkte niedergeschlagen und matt. ‚Was ist mit dir?’, fragten wir immer wieder. ‚Nichts’, sagte sie und legte sich hin. ‚Nichts.’ Und dann: ‚Je mehr ich dazulerne, desto weniger …’ Sie hat ihren Satz nicht beendet und von da an kein Wort mehr gesprochen.
    Eine von ihren Kommilitoninnen erzählte uns später, Venia sei an jenem Tag nach einer Vorlesung in die Bibliothek gekommen, habe ihre Schreibutensilien auf den Tisch gelegt und sei dann auf einen der Computer für die Katalogrecherche zugegangen. Auf halber Strecke sei sie stehengeblieben und habe sich in dem Lesesaal umgeschaut, einfach nur umgeschaut. Dann sei sie zurückgekommen, habe ihre Sachen gepackt und sei gegangen.
    Seit zwei Jahren denken Jott und ich darüber nach, wie sie ihren Satz beenden wollte. Anfangs hat auch unsere Mutter mit uns spekuliert. Sie hielt Venias Veränderung zunächst für eine Laune, die sich bald wieder geben würde.
    Wir haben viele Varianten erwogen, aber nur zwölf taugen wirklich etwas.«
     
    »Und Jott?«, fragte ich.
    »Jott war immer schweigsam. Als Kind hat er gestottert. Unsere Eltern haben ihn zu einer Logopädin gebracht, doch auch nach der Therapie fand er keinen Gefallen daran, sich mitzuteilen. Er und Venia standen sich sehr nahe. Seit sie nicht mehr spricht, erzählt Jott für zwei … wenn auch nur mir. Er redet noch immer nicht gern, aber er tuts.«
    Aki lächelte müde. Dann richtete er sich auf und sagte: »Jott und ich müssen zum Hafen. Willst du mitkommen?«
    »Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich heute noch hierbliebe?«
    »Im Gegenteil.«
     
    Zurück in Venias Zimmer setzte ich mich wieder auf meinen Stuhl.
    Manchmal war sie weit entfernt. Manchmal traf mich ihr Blick wie ein Wasserfall.
    Mittags brachte uns ihre Mutter etwas zu essen. Danach schlief ich ein. Als ich aufwachte, lag ich, den Oberkörper vornübergebeugt, mit dem Kopf auf Venias Bett.
     
    Am frühen Abend kehrten Jott und Aki zurück. Wieder wurde beim Essen wenig gesprochen, wieder wurde geraucht und Wodka getrunken.
    Ich äußerte den Wunsch, mir die Füße zu vertreten.
    Jott begleitete mich. Wir strichen schweigend um Palmen und Büsche, unser Spaziergang endete am Brunnen.
    »Hast du noch eine Zigarette?«, bat ich.
    Er fingerte eine aus seiner Jackentasche und gab mir Feuer.
     
    »Willst du wissen, welche zwölf Enden wahrscheinlich sind?«, fragte er.
    »Nein. Ich möchte selber darüber nachdenken. Auch wenn ich annehme, dass keines von ihnen ermutigend ist.«
    »Ja«, sagte Jott.
    Wir gingen ins Haus und tranken noch einen Wodka.
     
    Nachdem sich die anderen zurückgezogen hatten, nahm ich eine heiße Dusche und legte mich zu Bett. Ich schlief sofort ein.
    Gegen 3 Uhr wachte ich wieder auf. Eine Stunde lang wälzte ich mich von einer Seite auf die andere, verfluchte meine Unruhe und gab ihr schließlich nach. Ich zog mich an und ging die Treppe hinunter.
    An der Küche vorbei auf die Haustüre zusteuernd, sah ich, dass die erste Tür zu Venias Zimmer offenstand und unter der zweiten ein schmaler Lichtstreifen in den Flur fiel. Ich wollte schon klopfen, überlegte es mir dann aber anders und schlich nach draußen. Nach ein paar Runden ums Haus lehnte ich mich mit Sicht auf die schwarzblaue Landschaft an eine Palme. Bei dem Gedanken an Venias Anblick, an ihre Untätigkeit und ihr Schweigen, das ihre Familie wie eine Glasglocke umschloss, überkamen mich plötzlich Überdruss, Ungeduld und Ärger.
    Es fühlte sich an, wie wenn man ein Haar im Mund hat.
     
    Wie bin ich hierhergekommen?
    Da war eine Tür, die ich eintrat, nicht wahr?
    Oder nein: Ich trat sie nicht ein. Es ging nicht.
    Etwas in mir trat etwas ein.
    Und ich erinnere mich an die Frau im Lodenmantel.
     
    Jedenfalls ist da jetzt nichts mehr. Ich sehe und fühle nur noch, was mich unmittelbar umgibt: den Farn, die Verwurzelungen, die Fältelungen, das Flattern. Und das feine Singen meiner Knochen.

17
    Am nächsten Morgen traf ich Jott und Aki in der Küche. Wir tranken einen Kaffee im Stehen. Ich freute mich darauf, wieder in der Stadt zu sein.
    »Werdet ihr heute rausfahren?«, fragte ich.
    »Ja, um zehn und um eins«, erwiderte Aki.
    »Und wohin geht es?«
    »Immer zur Portada.«
     
    Die Portada lag, wie ich aus
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